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In memoriam

Zum Tod von

Jiří Menzel

(1938-2020)



Der tschechische Filmregisseur und Schauspieler Jiří Menzel in Wiesbaden am 24. April 2016 | Foto (C) Paul Katzenberger; Bildquelle: Wikipedia



Gelegentlich kann man den Eindruck gewinnen, dass im Abwehrkampf gegen die dominierende Stellung Hollywoods im Kino so etwas wie ein europäischer Einheitsfilm sich entwickelt. Das hat ökonomische Ursachen und ästhetische wie kulturelle Auswirkungen, die wenig erfreulich sind. Und es gibt kaum Hoffnung, dass diese Entwicklung rückgängig gemacht werden kann.

Noch vor einigen Jahren ließen sich nationale Filmkulturen deutlich unterscheiden. Der Cinéast wusste, was er von einem französischen, einem italienischen, einem englischen, einem russischen Film erwarten durfte. Stilistische Vielfalt machte den Kinobesuch zu einem Abenteuer. Ein ausländischer Film bedeutete stets auch eine Exkursion in eine fremde Kultur, die gerade in ihrer Verschiedenheit zum Vertrauten einen besonderen Reiz entwickelte.

Keine andere Filmnation hat sich so konsequent durch Komödien profiliert wie die tschechische, genauer: die tschechoslowakische, die bis zur Wende trotz manchen Besonderheiten mehr oder weniger eine Einheit bildete, schon weil die meisten slowakischen Regisseure an der renommierten Prager FAMU studiert hatten. Dabei konnte der Film auf eine kulturelle Tradition aufbauen. Bekanntlich ist das berühmteste Werk der tschechischen Literatur, Jaroslav Hašeks Schwejk, eine Satire. Hier ist nicht der Platz, darüber zu reflektieren, ob und wie weit diese nationale Eigenheit mit der Lage der Tschechen innerhalb der Habsburgermonarchie zusammenhängt, Ausdruck also ist eines Widerstands gegen mächtige Herrschaft.

Unter den tschechischen Regisseuren wiederum darf Jiří Menzel als primus inter pares betrachtet werden, wenn von Komödie die Rede ist. (Jiří ist übrigens die tschechische Form des Namens Georg und wird Jischi, mit Betonung auf der ersten Silbe, ausgesprochen.) Wenn er international nicht ganz so bekannt ist wie sein Landsmann Miloš Forman, so liegt das wohl daran, dass er nicht nach Amerika gegangen ist und in den Jahren nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag, zwischen 1968 und 1989, nur unter erschwerten Bedingungen arbeiten konnte.

Seinen Durchbruch erlebte Menzel 1966 mit dem Film Scharf beobachtete Züge, dessen westdeutsche Fassung mit dem idiotischen Titel Liebe nach Fahrplan in die Kinos kam. Menzel war damals gerade 28 Jahre alt. Der Film Scharf beobachtete Züge weist bereits jene Eigenschaft auf, die fast alle Komödien Menzels auszeichnet: Mit dem halbdebilen Geblödel, das man heute Comedy nennt, haben sie nichts gemeinsam. Hinter der Komik verbirgt sich stets bitterer Ernst. Die Komödie ist ein Mittel der Darstellung, keine Weltanschauung. Der schwarz-weiß gedrehte Streifen Scharf beobachtete Züge spielt im Zweiten Weltkrieg und endet unvermutet tragisch. Er beruht auf einer Erzählung von Bohumíl Hrabal, dem wohl bedeutendsten tschechischen Schriftsteller seit 1945, und Hrabal wurde denn zum großen Inspirator Menzels. Es gibt nicht viele Regisseure im internationalen Film, die so konsequent das Werk eines einzelnen Autors auf die Leinwand transportiert haben wie Menzel.

Hrabals Werk ist gekennzeichnet durch eine äußerliche Nähe zum Volkstümlichen, Plebejischen. Die Modernität seiner Prosa besteht nicht in herme­tischer Verstiegenheit. Während sich ge meinhin in der Moderne der Sinn hinter avantgardistischer Technik verbirgt, versteckt sich bei Hrabal, wie schon bei Jaroslav Hašek, die avantgardistische Methode hinter dem Sinn. Das gilt auch für die Filme Menzels. Sie sind populär und modern zugleich, für das vielzitierte breite Publikum nicht weniger attraktiv als für Intellektuelle.

Die zahlreichen Dialoge in Hrabals Werk erleichtern das Vorha­ben der Verfilmung, und auch der im tsche­chischen Film beliebten Typenkomik kommt Hrabals Figurenarsenal entgegen. Die tschechische Form der Filmkomödie, insbesondere auf der Grundlage von Texten Hrabals, ist angereichert mit psychologischer Weisheit, aber auch mit einem Zug ins Skurrile, mit einem zärtlichen Blick für das Groteske im Alltag.

Helden der Erzählungen, Novellen und Romane Hrabals wie der Filme Menzels sind die sogenannten „kleinen Leute“. Es ist die Zuneigung zu den Erniedrigten und Beleidigten, die Hrabals und Menzels Witz und Ironie niemals hämisch erscheinen lässt. Sie füllt noch die skurrilsten und groteskesten Einfälle mit einer Wärme, die sehr viel seltener ist als jene verlogene Betroffenheitssentimentalität, die Leichtgläubige für human und aufrichtig halten.

Menzel bevorzugt in seinen Filmen das ländliche gegenüber dem großstädtischen Ambiente. Die überschaubare dörfliche Gemeinschaft liefert ihm das Modell für die Tschechoslowakei und für die Welt. Denn Menzels Filme sind fast immer realistisch und parabelhaft zugleich, will sagen: sie lassen sich verstehen als Abbildungen aus der Provinz, aber auch als Gleichnisse für psychische, soziale, politische Zustände und Vorgänge im Allgemeinen.

Jiří Menzel arbeitete von Anfang an als Schauspieler wie als Regisseur, und zwar im Film ebenso wie auf dem Theater. Er war eine Attraktion des einstmals legendären Prager Theaters Činoherný Klub. Gerne tritt er, wie Hitchcock, wenigstens in einer kleinen Rolle seiner eigenen Filme auf. Mit seinem ewig jungen Bubengesicht, seiner Brille und seiner zaghaften Sprechweise ist er von vornherein ein komischer und zugleich melancholischer Typus, nicht unähnlich Woody Allen, aber ohne dessen Großstadtneurosen. Buster Keaton ist ihm gewiss näher als der lärmige und feixende Klamauk, der der Fernsehunterhaltung offenbar als Gipfel der audiovisuellen Komik gilt.

Für viele seiner Filme hat Menzel auch selbst das Drehbuch geschrieben. Man kann ihn, wie seine Kollegen der Tschechischen Neuen Welle der sechziger Jahre, zu der er als einer der Prominenten zu zählen ist, mit einem aus der Mode gekommenen Begriff durchaus als Autorenfilmer bezeichnen. Übrigens hatte bereits Menzels Debüt als Drehbuchautor, wie einer seiner witzigsten Filme, Ich habe den englischen Köng bedient, einen Hrabal als Vorlage. Perlen auf dem Grunde von 1965 ist ein Episodenfilm, an dem neben Menzel Jan Němec, Evald Schorm, Věra Chytilová und Jaromil Jireš mitgearbeitet haben. Ein weiterer Film, Lerchen am Faden, nach Hrabals Inserat für ein Haus, in dem ich nicht wohnen will, wurde 1969 gedreht, konnte aber erst 1990 nach der „Samtenen Revolution“ gezeigt werden.

In seinem 1974 in den USA erschienenen Buch über den tschechoslowakischen Film, für das er den Titel von Menzels erfolgreichstem Film zu Closely Watched Films deformierte, fragt der tschechische Publizist Antonín J. Liehm den Regisseur unter anderem, wen oder was er gerne auf der Bühne inszenieren würde. Jiří Menzel weicht, wie meist in seinen Antworten, aus und formuliert stattdessen eine Position, die manches enthüllt über den Stil seiner Filme: „In der Regel denken Schauspieler, dass man das Wort ‚Sarg‘ im Ton eines Begräbnisses sagen muss. Aber wie ich es sehe, ist das Höchste in der Schauspielkunst die Fähigkeit, ‚Geh und steck deinen Kopf in einen Eimer‘ so zu sagen, wie man ‚Ich liebe dich‘ sagt, und umgekehrt. Aber im Allgemeinen sehen das deine erfahrenen Schauspieler nicht.“

Jiří Menzel hat es seinen Schauspielern vorgemacht. Darum – unter anderem – sind seine Filme so unverwüstlich komisch und traurig zugleich. Vergangenen Samstag ist der große Regisseur, wie heute bekannt wurde, nach einer Kopfoperation im Alter von 82 Jahren gestorben.
Thomas Rothschild – 7. September 2020
ID 12444


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