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Ballettfilm

Die Herzen

der Welt

erobert



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Eine Ballettaufführung nach einer Choreografie von John Cranko dürfte selbst für verwöhnte Theater- und Opernbesucher eine Offenbarung und ein unvergessliches Erlebnis sein. Sein Aufstieg war kometenhaft, und sein Ruhm ist über 50 Jahre nach seinem frühen Tod im Jahr 1973 noch nicht verblasst. Der erfahrene deutsche Autor Joachim A. Lang hat sich nun mit seinem Drehbuch und seiner Regiearbeit zu Cranko aufgemacht, das Phänomen des als Superstar gefeierten Choreografen zu enträtseln, wobei Crankos Zauber am Ende aber erhalten bleibt! Es ist bemerkenswert, wie sehr dieser Magier des Balletts, der so viele Menschen emotional und sinnlich erreichte, in seinem Leben gelitten hat. Auf diese Schattenseiten geht Lang, ziemlich ausführlich, ein und schält heraus, wie die Intensität auch solcher Gefühle zur Wahrhaftigkeit seiner Kunst beigetragen haben mag. „Erst wenn man weiß, wie schrecklich die Menschen sind, kann man zu dem Bewusstsein kommen, wie schön sie sind“, lässt er Cranko erklären. Der Spielfilm ist ausdrücklich nicht als klassisches Biopic gedacht, Lang versucht die Quintessenz und die Inspiration von Cranko und seinen Choreografien zu ergründen.

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Der 1927 in Südafrika geborene Brite John Cranko (Sam Riley) kommt im Jahr 1961 an das kleine, damals unbedeutende, Ballett in Stuttgart. Bei dem Einführungsgespräch gibt er offen zu, dass er in England nicht mehr inszenieren konnte, weil man ihm eine Falle gestellt hatte. Er wurde von einem Mann mit gewissen Avancen auf die Toilette gelockt und verraten zu einer Zeit, als Homosexualität noch strafbar war. Die Presse zerriss den aufstrebenden Choreografen, und er ist froh, dass er in Stuttgart Arbeit angeboten bekommt. Er ist aber ungebrochen und krempelt so ziemlich alles um, um seine visionären Einfälle realisieren zu können. „Ich bin unbequem“, gesteht er dem Intendanten Walter Erich Schäfer (Hanns Zischler), der in den Folgejahren seine liebe Not mit dem eigenwilligen und sturen Künstler hat. Cranko hält sich nicht an die gesetzlich vorgeschriebenen Probenzeiten, er raucht im Probenraum Kette mit einem großen Eimer als „Aschenbecher“. Als eine der Ballerinen seine Regieanweisungen nicht umsetzen will oder kann, verzichtet er auf sie. Eine vielversprechende „Baby-Ballerina“ (Rocio Aleman) schickt er erst einmal für ein Jahr nach London, damit sie Lebenserfahrung sammeln kann.

Als eine junge Brasilianerin bei ihm vorspricht, besteht er darauf, dass sie eingestellt wird und droht seine Arbeit niederzulegen, als Intendant Schäfer das anfänglich ablehnt. Das Engagement von Marcia Haydée (Elisa Badenes) erweist sich als Glücksgriff, denn sie wird Crankos Muse und beide gehören zu den Weltstars, die das Stuttgarter Ballett hervorbringt und die die Herzen der Welt im Sturm erobern. - Seinen Durchbruch in Stuttgart erzielt er zuvor mit seiner Choreografie zu Romeo und Julia von Shakespeare nach Musik von Prokofjew, auf die Lang intensiver eingeht. In den Hauptrollen Marcia Haydée und Ray Barra (Jason Reilly), dessen Karriere als Tänzer durch einen Probenunfall früh beendet wird. Es folgen weitere erfolgreiche Handlungsballette und Lang befasst sich im Film näher mit Onegin von Alexander Puschkin mit Musik von Tschaikowski. Besonders der zeitweilige Humor bekommt beim Publikum gut an, und namentlich der Däne Egon Madsen (Henrik Erikson) war wegen seines komödiantischen Talents sehr beliebt. Auch die Choreografien ohne Handlung sind von hervorragender und zeitloser Qualität. Die Ausschnitte werden von den heutigen Tänzern des Stuttgarter Balletts getanzt und von dem Kameramann Philipp Sichler wunderbar in Szene gesetzt.

Der Erfolg allein macht ihn nicht glücklich, und Cranko leidet zunehmend darunter, dass er alleine ist und keine Familie hat. Er ist ständig auf Partnersuche, aber keine der Beziehungen hat Bestand. Die Partnerschaft zu einem gebildeten jungen Mann wird von diesem beendet, weil dessen Eltern gedroht haben ihn zu verstoßen, wenn er mit einem Mann zusammenlebt. Neben seiner Kettenraucherei trinkt Cranko auch immer mehr Alkohol. Er ist mit seiner offen gelebten Homosexualität seiner Zeit sehr voraus. So auch mit seiner Choreografie zu Spuren: Er konfrontiert darin die Zuschauer mit ihrer NS-Vergangenheit, und das führt zu einem Misserfolg, denn die Menschen sind zu dieser Zeit einfach noch nicht so weit. Er selbst hat als Kind und junger Erwachsener die Apartheid in Südafrika mit ihren Auswüchsen erlebt und wollte mit dem Ballett ein Statement gegen Rassismus abgeben.

Auch wenn er sehr hohe Anforderungen an seine Tänzer und Tänzerinnen stellt, liebt und schätzt er sie sehr. Mit dem Ballett Initialen R.B.M.E. schreibt er den Solisten Richard, Birgit, Marcia und Egon atemberaubende Choreografien auf den Leib, die ihre individuelle Meisterschaft und Einzigartigkeit illustrieren, womit er ihnen ein bemerkenswertes Denkmal setzt. Cranko sprüht vor Ideen und Plänen und genießt es mit seinen „Kindern“, wie er die Tänzer nennt, auf Tournee zu gehen. Auf einem Rückflug von New York bricht Cranko zusammen und wird nach einer Zwischenlandung in Dublin für tot erklärt. Man vermutet eine allergische Reaktion auf eine Schlaftablette.

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Nicht nur die Stuttgarter standen unter Schock, sondern auch die ganze Ballettwelt. Sie hatten einen visionären Choreografen verloren, der das Ballett reformiert hatte und nach eigenen Angaben die Körper der Tanzenden zu Geist werden lassen wollte. „Ich will mit Tanz das sagen, was man mit Worten nicht sagen kann“, postulierte er und machte auch keine Abstriche bei der Umsetzung. Langs Film ist der Versuch, dem Phänomen Cranko auf die Spur zu kommen, was ihm überwiegend wohl gelingt. Mit den vielen Ballettszenen - der Hauptattraktion des Films - zeigt er, wie tief Cranko die menschliche Seele zu offenbaren und zu erreichen wusste, in ihren Abgründen und in ihrer Herrlichkeit. Das aktuelle Ensemble des Stuttgarter Balletts hat auf zwei Welttourneen verzichtet, um an dem Film mitwirken zu können, denn sie sind sich der Bedeutung von Crankos choreografischem Erbe sehr bewusst, das insgesamt mit schwäbischer Zuverlässigkeit bewahrt wurde und wird.

Elisa Badenes glänzt als Marcia Haydée nicht nur tänzerisch, sondern versteht es, deren tiefe Zuneigung zu Cranko mit Warmherzigkeit auszudrücken. An ihrer Seite stehen die beiden Tänzer Friedemann Vogel als Heinz Clauss, dem Solisten von Onegin und dem späteren Leiter der John-Cranko-Schule. Marti Fernandez Paixa spielt den attraktiven Solisten Richard Cragun, mit dem Haydée auch jahrelang privat liiert war. - Und was soll man zu Sam Riley sagen? Er hatte mit den Handicaps zu arbeiten, dass er John Cranko überhaupt nicht ähnlich sieht und im Gegensatz zu ihm durch geschädigte Stimmbänder eine ziemlich raue Stimme hat. Doch Riley läuft zur Höchstform auf und am Ende mag man sich kaum einen anderen Schauspieler in dieser Rolle vorstellen.

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Dieter Graefe (gespielt von Max Schimmelpfennig) war der damalige Ballettsekretär und erbte nicht nur Crankos Besitz, sondern auch die Choreografien, die in Stuttgart wie Augäpfel gehütet werden. Und Fritz Höver (gespielt von Lucas Gregorowicz) war der Gründer der Stuttgarter Noverre-Gesellschaft, die das Ballett in Stuttgart förderte, und Initiator der inzwischen legendären Plattform Noverre: Junge Choreographen. Insgesamt ist der Film hervorragend besetzt, auch wenn Lang nicht die Bedeutung und den Hintergrund jeder einzelnen der vielen Personen und Inszenierungen beleuchten konnte.

Am Ende versammeln sich die Schauspieler und Tänzer an Crankos Grabstätte zusammen mit den Frauen und Männern, die sie spielten. Dieter Graefe und Richard Cragun sind leider schon verstorben, aber Marcia Haydée ist noch auf den Beinen, so auch die einstige Baby-Ballerina Birgit Keil, die später als „Deutsche Ballerina“ Furore machte und sich nach Ende ihrer tänzerischen Karriere um den Ballettnachwuchs kümmerte, der Cranko ein so großes Anliegen war. Der Film zeigt, dass von Crankos „Kindern“ immer noch einige sein Vermächtnis hochhalten und dass es Generationen von „Enkeln“ und „Ur-Enkeln“ im Stuttgarter Ballett gibt, die ihm verbunden sind, ohne ihn je kennengelernt zu haben. Langs Film ist nicht nur eine Augenweide, sondern auch ein wichtiges Zeitdokument.



Heimkehr nach dem ersten großem Erfolg an der Metropolitan Opera in New York, John Cranko (Sam Riley) und Marcia Haydée (Elisa Badenes) | © Wolfgang Ennenbach/ Zeitsprung Pictures/ SWR/ Port au Prince Pictures

Helga Fitzner - 2. Oktober 2024
ID 14948
Weitere Infos siehe auch: https://port-prince.de/projekt/cranko/


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