Zwischen Mut
und Verzweiflung
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Bewertung:
24 Wochen ist das beste Beispiel dafür, dass ein dramatischer, lebensnaher, konzentriert erzählter Stoff die Zuschauer zu packen vermag und keines großen Produktionsaufwands bedarf. Ich muss zugeben, dass ich beim Betrachten des Films bei der BERLINALE im Frühjahr während der ersten 15 Minuten einige Male dachte, „ach Gott, jetzt kommt wieder so eine leicht dröge, papierne, schwerblütige Schicksalsgeschichte deutscher Fabrikation daher, von denen man schon oft enttäuscht.“ Dass sich dieser erste Eindruck völlig gewandelt hat, liegt zum einen an den vielschichtigen Charakteren, die von wunderbaren Darstellern mit Leben gefüllt werden. Zum anderen aber an einer ausgefeilten Dramaturgie, die die Figuren (und die anteilnehmenden Zuschauer) wie in einem Schraubstock immer enger in eine Situation zwingt, bei der existentielle Entscheidungen unvermeidlich werden.
Die ehemalige Sozial- und Theaterpädagogin und Spielfilmdebütantin Anne Zohra Berrached erzählt in 24 Wochen von einem glücklichen Ehepaar (nuancenreich gespielt von Julia Jentsch und „Tatortreiniger“ Bjarne Mädel), dass in Erwartung des zweiten Kindes eine bittere Nachricht der Ärzte erhält: Ihr Kind wird geistig behindert zur Welt kommen. Die Eltern entscheiden sich nach dem ersten Schrecken und gründlicher Überlegung für die Geburt, in der Hoffnung, für alles, was da kommt, zusammen stark genug zu sein. Da der Mann seiner Ehefrau, die als Comedian und Kabarettistin im Licht der Öffentlichkeit agiert, auch sonst den Rücken freihält und bereits eine gesunde Tochter existiert, glaubt das Paar, die Pflege eines behinderten Kindes meistern zu können – im Gegensatz zu manchem Freund in ihrer Umgebung (und der skeptischen Mutter der Schwangeren).
Schon in diesem frühen Stadium des Dramas mit dem Hin und Her, Für und Wider der Entscheidung, stellt die Regisseurin indirekt auch den Zuschauern die Frage, inwieweit Behinderung heute noch selbstverständlich, ja, akzeptabel erscheint – oder als eine nur mehr störende Heimsuchung. Gottlob werden die Dialoge und Szenen im weiteren Verlauf immer authentischer, verlieren den konstruierten Überbau der Anfangssequenzen. Geschickt vermeiden Skript und Regie, dass im Zusammenleben des Ehepaares nur noch Verzweiflung und Hilflosigkeit dominieren, sondern die Liebe (zunächst) sie noch wie einen Fels in der Brandung hält.
Aber die Diagnosen werden immer schlechter, je weiter die Schwangerschaft voranschreitet. Ein schwerwiegender Herzfehler beim Fötus wird umfangreiche Operationen mit kaum abschätzbaren Folgen nach der Geburt nötig machen, wenn das Kind eine Lebenschance erhalten soll, sagen die Fachärzte (die sich vor der Kamera selbst spielen, darunter auch der Vater der Regisseurin). Mit dem Paar, das durchgehend in Nah- und Großaufnahmen gefilmt wurde, gehen auch die Zuschauer durch eine Achterbahnfahrt der Gefühle, in der sich Zuversicht und Verzweiflung abwechseln. Noch nie wurde das Dilemma, das die ausdifferenzierten medizinischen Gentests bei werdenden Eltern mittlerweile auslösen, so intensiv vermittelt wie in diesem Film.
Der Entscheidungsdruck vergiftet schließlich auch das Verhältnis der Ehepartner. Die moralischen Gewissensnöte und die persönlichen Ängste der Eheleute exerzieren Berrached und ihr männlicher Ko-Autor Carl Gerber konsequent bis zum Ende durch, das hier fairerweise nicht verraten werden soll. Der Ausgang der Story stand aber von vornherein fest, wie die Filmemacher bei der BERLINALE-Pressekonferenz berichteten. Ihnen, aber auch die der versammelten Medienvertreter, war die Erleichterung anzumerken, dass der Film trotz seines schwierigen Themas keine Abwehr auslöste, sondern die Zuschauer in die Geschichte hineinzuziehen vermochte. Die Jury um Schauspielerin Meryl Streep ignorierte den Film leider zugunsten "politischer" Filme, wie es auf der BERLINALE öfter geschieht. Dafür räumte der Film, der etwas zu sagen hat, ohne belehrend zu sein, verdientermaßen überall dort Preise ab, wo er anschließend lief, so z.B. beim Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern im Mai gleich drei der wichtigsten Auszeichnungen inklusive des Publikumspreises. Taschentücher nicht vergessen!
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24 Wochen | (C) Neue Visonen Filmverleih, Berlin
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Max-Peter Heyne - 22. September 2016 ID 9567
Weitere Infos siehe auch: http://www.24wochen.de
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