EUROPÄISCHES JUDENTUM IM FILM
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Die Zukunft
in die eigenen
Hände gelegt
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Bewertung:
Samuel (Antônio Petrin) lebt in Tel Aviv, ist in die Jahre gekommen und hat nicht mehr viel zu verlieren. Der Zustand seines Herzens ist so schlimm, dass er dringend eine Operation bräuchte, deren guter Ausgang aber nicht garantiert werden kann. Er verschweigt das seiner Familie, die in Israel aus seinem 40-jährigen Sohn Roberto (Asaf Goldstien) und seinem Enkel Itay (Rom Barnea) besteht. Der finanziell angeschlagene Roberto lebt derzeit in Samuels Zweizimmerwohnung mit, weil sich seine Frau Tali (Hadas Kalderon) scheiden lässt und mit ihrem neuen Freund Thomas (Ole Erdmann) nach Deutschland ziehen will. Roberto hat mit über 40 Jahren noch keine Perspektiven, und auch der 11jährige Itay hängt nur vor seinem Smartphone und interessiert sich für nichts. Der fußballverrückte Samuel dagegen hebt spontan sein ganzes Geld ab, und so fliegen Großvater, Sohn und Enkel nach Samuels Heimat Brasilien, wo gerade, wir schreiben das Jahr 2014, die Fußballweltmeisterschaft stattfindet. Die drei haben sich eigentlich nicht viel zu sagen, aber dieser Roadtrip wird genre-gemäß ihr Leben verändern.
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Der argentinische Regisseur Jorge Gurvich lebt seit 1978 in Israel und hat zusammen mit Hagi Lifshitz das Drehbuch zu dem Spielfilm Back to Maracanã geschrieben, in dem er die ganze Begeisterung und den Ausnahmezustand wiedererweckt, in dem sich Brasilien zur Zeit der WM befand. Die drei besuchen Samuels Schwester und deren Familie in Brasilien, die überhaupt nicht glücklich über deren Auftauchen sind, weil Samuel seit Jahrzehnten seinem fußballbegeisterten Vater nacheifert, ohne jemals zur Kenntnis genommen zu haben, wie viele Opfer die Familie dafür bringen musste. Der Fußball wurde zu einer Sucht und einer Realitätsflucht, an der der Vater schließlich zerbrach. Samuel hat das Familiengeheimnis um ihn nie an sich heran gelassen.
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Stehen füreinander ein. Der junge Itay (Rom Barnea) mit seinem Großvater Samuel (Antônio Petrin) und seinem Vater Roberto (Asaf Goldstien) | (C) Jip Film
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Mitten im Jubel und Trubel der WM werden die drei Generationen gefordert, während sie mit einem Wohnwagen von einem Stadion zum nächsten durch das weite Land fahren, denn Hotelzimmer sind schon lange ausgebucht. Im Laufe der Geschichte ist es nicht der Fußball, der die drei zusammenschmiedet, sondern die Herausforderungen unterwegs, wo jeder sein Können und seine guten Eigenschaften einsetzt. Das sorgt für gegenseitige Anerkennung und letztendlich Zuneigung. Je höher das allgemeine Fußballfieber steigt, während es Brasilien bis ins Halbfinale gegen Deutschland schafft, um so weniger wichtig wird der Fußball für die drei. Insbesondere der kranke Samuel verarbeitet die Familientragödie endlich und alle drei erwachen allmählich aus einer Starre.
Maracanã ist der Name des Fußballstadions in Rio de Janeiro, in dem 1950 das Endspiel zwischen Brasilien und Uruguay stattfand, in dem Brasilien im eigenen Land nur den zweiten Platz belegte: eine kollektive Niederlage, die 2014 dann noch verstärkt wurde, als Brasilien im Halbfinale mit 7 zu 1 Toren gegen Deutschland ausschied.
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Es wird an keiner Stelle im Film explizit erwähnt, aber das Familiengeheimnis und die WM sind eine Parabel für die Traumatisierung durch die Shoah und überschattet die ganze Familie. Der Umstand, dass sie im Film nicht thematisiert wird, macht sie um so unheimlicher. Letztendlich ist der Film eine Reise zu einer vorprogrammierten Niederlage, wie der Titel besagt, zurück zum Ort der einst erlittenen Schmach. Und sich der zu stellen, ist eine schmerzliche Erfahrung. Das Deutsche taucht leitmotivisch für die Shoah auf. Da ist ausgerechnet ein Deutscher, der Roberto die Ehefrau ausspannt. Dieser Thomas ist dabei auch noch zuvorkommend, versucht sich auf Itay einzustellen, der mit nach Deutschland kommen soll, besorgt sogar Karten fürs Halbfinale, so dass seine Überlegenheit klar wird. Natürlich bleiben ständige Begegnungen mit deutschen Schlachtenbummlern auch nicht aus. Die 7 Tore, die Deutschland dann noch gegen das Gastgeberland Brasilien erzielen konnte, wurden von vielen Brasilianern als eine ungeheure Schande empfunden, und so inszeniert Gurvich Deutschland als einen nahezu unüberwindlichen Gegner. Die Deutschen im Film sind eine Art sichtbare und unentrinnbare Form des unausgesprochenen und doch sehr präsenten Holocausts.
Es soll nicht zu viel vom Inhalt verraten werden, nur noch dass der Film mit Warmherzigkeit und trotz allem einer gewissen Leichtigkeit und Humor inszeniert wurde. Am Ende stellen sie sich ihrer Familienvergangenheit und lassen sich nicht mehr von ihr fremdbestimmen: „Schritt für Schritt lernen sie, was es heißt Vater zu sein und Sohn zu sein, wie vielschichtig ihre Beziehungen sind und wie erschreckend leicht sie zu Bruch gehen können. Sie lernen zu verzeihen und erkennen, dass die Vergangenheit, die die Gegenwart hervorgebracht hat, uns die Zukunft in die eigenen Hände legt“, erklärt Gurvich. Ihm ist damit ein bemerkenswerter Film und eine behutsame und empathische Annäherung an eines der schrecklichstes Kapitel der Menschheitsgeschichte gelungen.
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Helga Fitzner - 17. Juli 2019 ID 11571
Weitere Infos siehe auch: https://jip-film.de/back-to-maracana/
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