UNSERE NEUE GESCHICHTE (Teil 49)
|
Geistreicher
Geniestreich
|
|
Bewertung:
Der Film Dahomey machte auf der diesjährigen BERLINALE Furore und heimste den Goldenen Bären ein. Er dreht sich um das Dauerthema der Rückführung von Raubkunst, von dem man meinen könnte, dass bereits alles gesagt sei. Weit gefehlt: Die französische Regisseurin Mati Diop verleiht dem Diskurs überraschend viel Pathos und Poesie, sodass man als Zuschauer an einer ungeahnten Erfahrungswelt teilhaben kann.
*
Als im Jahr 2021 die Restitution von 26 Artefakten von Paris nach Benin stattfinden sollte, war für Diop klar, dass sie den Prozess mit der Kamera begleiten wollte. So beginnt der Film im schillernden nächtlichen Paris, um dann ausführlich die behutsame Verpackung der Objekte zu dokumentieren. Eines davon ist eine Statue des Königs Ghézo von Dahomey, einem Königreich, das heute einen Teil des westafrikanischen Staates Benin ausmacht. Der Clou des Films ist der, dass Diop „Ghézo“ zu uns sprechen lässt. Im Jahr 1892 wurde „er“ von den französischen Kolonialherren gestohlen und nun, nach über 130 Jahren, tritt er seine Heimreise an. Heute wird er kurz Nummer 26 genannt. Der König hat vor zwei Sachen Angst: ob er wiedererkannt wird und ob er alles wiedererkennen wird. - Die Texte stammen von dem haitianischen Dichter Makenzy Orcel.
Es ist einfach fantastisch mitanzusehen, wie die nunmehr beseelte Statue den Transport erlebt. Diop, die westafrikanische Vorfahren hat, setzt Schwarzblenden ein, als der Deckel zugemacht wird und Ghézo in der alten Landessprache Fon aus dem Dunkeln zu uns spricht: Eine eindringliche Metapher für die Leere, die in Dahomey entstand, nachdem das materielle kulturelle Erbe mit über 7.000 Artefakten über etliche Generationen hinweg verloren gegangen war. Ghézos prächtiger Thron mit seinen detaillierten Schnitzereien gehört ebenfalls zu den ausgewählten Stücken. Zu Ghézo gesellen sich zwei weitere „Könige“: Glélé, der mit einem Löwenkopf dargestellt wird, und Behanzin mit seinem Haifischkopf, beide Tiere als Symbole ihrer Kraft und Macht. Diop vermischt hier Genres wie Dokumentation, Fiktion und erweitert sie um mystische und spirituelle Aspekte. Das erweist sich als äußerst gelungen, um dem Publikum das komplexe Thema näher zu bringen.
In Benin angekommen, werden sie in einen Lastwagen mit der Aufschrift „Restitution“ und Bildern einiger Artefakte verladen. In den Straßen wird anlässlich ihrer Ankunft traditionell gesungen und getanzt, doch Ghézo und seine Mitreisenden können das nicht sehen. Im Präsidentenpalast der Stadt Cotonou angekommen, gibt es erst einmal wieder Schwarzblenden, nur auf der Tonebene sind die Geräusche zu vernehmen, mit denen die Kiste aufgehämmert wird, und wir sehen aus subjektiver Sicht die Ankunft des Königs Ghézo ins Licht. Es folgt eine Bestandsaufnahme, die wieder sehr dokumentarisch ist und in der die technischen Daten der „Heimkehrer“ und ihr Zustand erfasst werden. Sie sind unrestauriert übergeben worden und geringfügig beschädigt.
Am Tag der Eröffnung finden sich viele Beniner, die Rang und Namen haben, im Präsidentenpalast ein, um das Ereignis und sich selbst zu feiern. Die Stimmung ist gut, die Gewänder sind prächtig, und der Anlass wird würdig begangen. Für den Schmerz über den Verlust ihrer Kulturgüter, mit denen ihre Identität und Geschichte verbunden sind, ist an diesem Tag kein Platz. Man muss ihnen auch die Freude zugestehen, denn nach den ewigen Diskussionen hat kaum jemand damit gerechnet, dass wir noch zu unseren Lebzeiten die Rückgabe irgendwelcher geraubten Güter erleben werden.
26 Artefakte von über 7.000 gestohlenen Objekten sei eine Beleidigung, heißt es später in einer Diskussion an der Universität von Abomey-Calavi, die zwar fiktiv ist, aber in dokumentarischer Gestalt die verschiedenen Aspekte und die Meinungsvielfalt illustriert. So gibt es Befürworter von Präsident Patrice Talon, die froh sind, dass wenigstens 26 Objekte ihren Weg nach Hause gefunden haben, aber auch Kritiker, die sagen, dass der Präsident nur sein Image aufpolieren wolle. Das gelte insbesondere auch für den französischen Präsidenten Macron, während dessen Amtszeit der Einfluss Frankreichs auf seine ehemaligen Kolonien zunehmend schwindet. Ausreichend sei das alles nicht. Einige wollen eine umfassende Revolution, um alles zurück zu bekommen und beschützen zu können. Andere weisen darauf hin, dass der Staat Benin gar nicht über die finanziellen Mittel, Stätten und ausgebildetes Personal verfüge, um sich um alle diese Werke kümmern zu können. (Nach dem Human Development Index gehört Benin in der Tat zu den 20 ärmsten Ländern der Erde).
In der Diskussion wird klar, dass die Beniner zwar wussten, dass „Dinge“ abhanden gekommen waren, aber ihnen war nicht bewusst, dass es sich um Kulturschätze handelte, die mit ihrer Identität und Geschichte zu tun haben. Jemand tröstet sich damit, dass das materielle Erbe sich zu einem großen Teil im Ausland befinden mag, aber das immaterielle Erbe, wie ihre Tänze, Traditionen und Kenntnisse immer noch im Land sind. Ein weiterer beklagt, dass er mit Disney und Tom und Jerry aufgewachsen ist und keine Ahnung von dem traditionellen beninischen Kunstschaffen hatte. Das Ausmaß der kulturellen Leerstelle, die der Raubzug verursacht hat, wird erst jetzt erkennbar.
Am Schluss ist die Ausstellung für die allgemeine Öffentlichkeit zugängig, und die Besucher werden von der Kamera (Joséphine Drouin-Viallard) einfach nur beim Betrachten beobachtet. Man merkt, dass sie das Gesehene erst einmal verarbeiten müssen, denn auch sie hatten wohl keine Ahnung von dem Beitrag, den ihre Vorfahren zum Weltkulturerbe beigesteuert haben. Mati Diop hat in einem Film von gerade einmal 68 Minuten Schwung in die Diskussion gebracht und ein innovatives und unterhaltsames Kinowerk geschaffen. Jenseits des intellektuellen Begreifens der Problematik kann man als Zuschauer ebenso die emotionale und durchaus auch seelische Auswirkung nachvollziehen. Zugleich ist der Film ein Beispiel für die meisterhafte afrikanische Erzählkunst, und die lässt sich nicht so einfach in Kisten sperren.
|
Die Statue von König Ghézo ist nach 130 Jahren nach Hause zurückgekehrt | © MUBI
|
Helga Fitzner - 24. Oktober 2024 ID 14979
Weitere Infos siehe auch: https://mubi.com/de/de/films/dahomey
Post an Helga Fitzner
Dokumentarfilme
Spielfilme, international
Neues deutsches Kino
UNSERE NEUE GESCHICHTE
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Rothschilds Kolumnen
BERLINALE
DOKUMENTARFILME
DVD
EUROPÄISCHES JUDENTUM IM FILM Reihe von Helga Fitzner
FERNSEHFILME
HEIMKINO
INTERVIEWS
NEUES DEUTSCHES KINO
SPIELFILME
TATORT IM ERSTEN Gesehen von Bobby King
UNSERE NEUE GESCHICHTE
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|