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Neues deutsches Kino

„Wenn du weißt, was du willst, dann mach' es einfach.“



Bewertung:    



Für gute Geschichten muss man nicht immer viel Fantasie aufbringen oder in die Ferne schweifen. Manchmal reicht es, dem Leben selbst zuzuhören. Der Junge muss an die frische Luft ist die Geschichte eines Knirpses, der Mitte der 1960er Jahre im Ruhrgebiet geboren wurde, und wird aus der Perspektive des Achtjährigen erzählt. Seine Familie hat Glück gehabt, alle Großeltern und vor allem etliche Tanten haben den Krieg überlebt, und die Erzählungen über die schlimme Zeit sind kindgerecht verpackt und verharmlost. „Oppa“ Willi (Joachim Król) musste nämlich 300 Kilometer zu Fuß laufen, bis er nach dem Krieg wieder zu seiner Änne (Hedi Kriegskotte) zurückfand. Die Familie feiert oft und gern, und der kleine Hans-Peter (Julius Weckauf) wächst behütet und geliebt in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf.

Eines Tages muss „Omma“ Änne ins Krankenhaus und kommt kränker wieder heraus als sie eingeliefert wurde. Damals war das so, dass die Menschen zum Sterben nach Hause geschickt wurden. Sie erklärt ihrem Enkel, dass sie nicht mehr lange da sein werde, und rät ihm, sich nicht um die Meinung anderer Leute zu scheren: „Wenn du weißt, was du willst, dann mach' es einfach.“ Hans-Peter kompensiert seinen Schmerz mit Essen und perfektioniert sein parodistisches und komödiantisches Talent. Auch seiner depressiven Mutter geht es immer schlechter, und er ist oft der einzige, der sie aufheitern kann. Es ist sein Großvater Willi, der mit ihm einen Urlaub an der frischen Luft macht, damit der Junge mal raus kommt. Dann geschieht die Tragödie: die Mutter bringt sich um. Hans-Peter verliert für eine ganze Zeit seine Spielfreude, doch das Leben geht weiter, und das Jugendamt will überprüfen, ob seine Großeltern väterlicherseits, Bertha (Ursula Werner) und Hermann Kerkeling (Rudolf Kowalski) noch in der Lage sind, das Sorgerecht für die beiden Enkelsöhne übernehmen zu können.



Die Großeltern Kerkeling (Ursula Werner und Rudolf Kowalski) freuen sich mit dem kleinen Hans-Peter (Julius Weckauf) | © Warner Bros. Pictures Germany


Den frühen Tod der Mutter hat das Multitalent Hape Kerkeling in seinem autobiografischen Buch von 2014 aufgearbeitet, das von Ruth Toma in ein Drehbuch umgewandelt und von der Regisseurin Caroline Link (Auslands-Oscar für Nirgendwo in Afrika) feinfühlig umgesetzt wurde. Da es der kindliche und verklärende Blick ist, lief Link auch nicht die Gefahr, aus lauter Respekt vor dem noch lebenden Original den Film zu verwässern. Doch Link ist klug genug, die Idylle nur oberflächlich erscheinen zu lassen. Wir sehen die kleinbürgerlichen Mietshäuser, die tristen Straßen, und im Hintergrund der Wiesen scheint das Industriegebiet immer wieder durch. Der kleine Hans-Peter ist pummelig und nicht sehr sportlich, was ihm bei seinen Spielkameraden nicht gerade zum Favoriten macht. Das gleicht er mit Humor und Schlagfertigkeit immer wieder aus, Qualitäten, mit denen er eines Tages sogar großen Erfolg auf der Schulbühne hat.

Es ist eine große Regieleistung, dass Link es schafft, aus jeder Person ein Universum für sich zu gestalten, die alle stark ausgeprägt sind. Alle haben Macken, Vorlieben, Einschränkungen, Talente, und alle werden vorurteilslos von dem kleinen Hans-Peter geliebt, sei es die Tante, die Nonne geworden ist, oder diejenige, die so gerne verruchte Lieder von Zarah Leander singt, obwohl ihr die Sangeskunst eher nicht in die Wiege gelegt wurde. Hans-Peter saugt ihre Attitüden, Sprüche, Lebensweisheiten, Unzulänglichkeiten und Eigenarten auf. Heute ist es oft so, dass politische Korrektheit alles nivelliert, wobei Individualität, Originalität und Unterscheidungsfähigkeit auf der Strecke bleiben. Links Differenziertheit in der Inszenierung der Charaktere ist daher einfach mal wohltuend. - Das Drehbuch und die Regie „begehen“ einige kleine Anachronismen, indem sie Figuren (wie beispielsweise Horst Schlämmer), die Hape Kerkeling später berühmt machten, schon in der Kindheit anlegen. Hans-Peter verkleidet sich auch gern und läuft zu Karneval sogar mal als Prinzessin herum.

Dazu kommt ganz viel Ambiente der 1960er und 1970er Jahre, mit dem Tante-Emma-Laden der Großmutter, wo sich alles an teilweise skurrilen Figuren versammelte, die ein unschätzbares Reservoir an Typen und Macken abgaben, die Hape Kerkeling auch später noch mit viel Stoff versorgt haben dürften. Dann noch die Fernsehsendungen wie Disco mit Ilja Richter oder Schlager wie Spaniens Gitarren mit Cindy und Bert. Auch Kerkelings Talent, Frauen darzustellen, hat sich ganz offensichtlich schon in seiner Kindheit herausgebildet.

Der Film endet mit dieser Kindheitsphase. Es ist eine warmherzige, feinfühlige Tragikomödie, die den Zuschauer mit einem guten Gefühl zurücklässt und mit der Bewunderung für einen Mann, der über viele Jahre hinweg die ganze Fernsehnation zum Lachen brachte, indem er Menschen karikierte, dabei aber nie respektlos war, sondern sich den menschenfreundlichen Blick des Knaben erhalten hat, obwohl er ein solch traumatisches Erlebnis mit sich trägt.
Helga Fitzner - 20. Dezember 2018
ID 11110
Weitere Infos siehe auch: https://www.warnerbros.de/kino/der_junge_muss_an_die_frische_luft.html


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