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UNSERE NEUE GESCHICHTE (Teil 52)

Schweigen

und Tabus



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Ariadna (Laia Costa) nimmt einen Anruf entgegen, der ihr Leben beeinflussen wird. Die Anruferin will ihren Großvater Carlos (Felipe García Vélez) darüber informieren, dass die Exhumierungen in einem Massengrab begonnen haben, in dem dieser seinen vermissten Vater vermutet. Die Familie hatte keine Ahnung davon, und da Carlos an Demenz leidet und in einem Pflegeheim lebt, kann er nicht mehr befragt werden. Schnell wird klar, dass Carlos' Vater zu den Tausenden von Opfern der Massenmorde gehörte, die im Laufe des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) und nach der Machtübernahme General Francos begangen wurden. Ariadna ist seit längerer Zeit krankgeschrieben und leidet an Angstzuständen. Trotzdem besucht sie die Grabungsstätte und versucht mehr über die unbekannte Familiengeschichte herauszufinden.

Der Spielfilm Der Lehrer, der uns das Meer versprach beginnt im Jahr 2010 und basiert auf dem Tatsachenroman El maestro que prometió el mar von Francesc Escribano und einem Drehbuch von Albert Val. Die spanische Regisseurin Patricia Font inszeniert in diesem hervorragend besetzten Film feinfühlig und eindrücklich, wie das Schweigen über eines der dunkelsten Kapitel nicht nur spanischer Geschichte sich heute noch auf die nachgeborenen Generationen auswirkt und kontrastiert das mit einem erfolgreichen Beispiel visionärer Reformpädagogik.

Als Ariadna die Grabungsstätte besucht, begegnet ihr ein alter Mann, der sich als Emilio (Ramón Agirre) vorstellt. Der erzählt ihr von seinem früheren Lehrer Antoni (Enric Auquer), den er unter den 135 Leichen vermutet. Dieser hatte einst den Jungen Carlos (Gael Aparicio) bei sich aufgenommen, nachdem dessen Vater aus politischen Gründen inhaftiert worden war. Bei dem beschriebenen Carlos handelt es sich um Ariadnas Großvater, und dessen vermisster Vater ist ihr Urgroßvater. Die psychisch angeschlagene Frau bleibt viel länger, als vorgesehen, und geht der Geschichte eines wundervollen und herausragenden Lehrers nach, die in Rückblenden gezeigt wird.

*

Kinder sollen lernen, Kinder zu sein, meint der junge, visionäre Antoni. Der Lehrer selbst wurde dazu erzogen, sich wie ein Erwachsener zu verhalten, was auch auf die Kinder seiner Dorfschule zutrifft. Von deren Eltern kritisch beäugt, lässt er sich von seinen Schülern duzen, verlegt den Unterricht schon mal nach draußen in den Wald, er bringt ihnen das Tanzen bei und lässt sie im Prinzip das lernen, was sie gerade möchten. Sie arbeiten mit einer kleinen Druckerpresse und Bleibuchstaben, mit denen die Klasse kleine Hefte mit selbst gewählten und verfassten Texten herstellt, sodass die Kinder ein greifbares Ergebnis ihres Lernerfolgs haben, der ohne Zwang, Züchtigung und Drill zustande kam. Da keines der Kinder jemals das Dorf verlassen hat und noch nie am Meer war, bereitet er unter Widerstand einiger Eltern für die Sommerferien eine Klassenfahrt ans Meer zu seinem Geburtsort an der Ostküste vor.

Die Prinzipien der in den 1920er entstandenen Freinet-Pädagogik zeichnen sich neben der Schuldruckerei durch weitere Maßnahmen aus:


"Der lehrerzentrierte Unterricht wird durch selbständiges Arbeiten, Exkursionen und Erkundungen ersetzt. Die Kinder bestimmen weitgehend selbst, was und mit wem sie lernen wollen und wie viel Zeit sie dafür benötigen. Dabei wird die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes gefördert und Fähigkeiten zur kritischen Selbstverantwortlichkeit entwickelt. Die Kinder gehen aufgeschlossen aufeinander zu und organisieren im Klassenrat in Eigenregie sowohl die täglichen Arbeitsaufträge, sowie auch gemeinsam Lösungen für Probleme und Konflikte gesucht werden. Die Schüler erarbeiten Regeln und lernen die Notwendigkeit derselben kennen, gleichzeitig wird ein Grundstein für eine Demokratisierung gelegt." (Quelle: 24 Bilder Film)


Zu der Klassenfahrt kommt es allerdings nicht mehr, denn die Nationalisten sind auf dem Vormarsch, zerstören alles, was nicht in ihre Ideologie passt, und es beginnen „Säuberungsaktionen“ bei politischen Gegnern:


"Ziel des Putsches durch das Franco-Regime im Juli 1936 war es, (auch) diese Fortschritte im Bildungs- und Erziehungswesen zu beseitigen, ein Klima der allgemeinen Angst zu schaffen und durch die umfassenden Exekutionen der Lehrer den humanistischen, liberalen und reformerischen Geist der Republik auszulöschen." (Quelle: dto.)


Bislang wurden ungefähr 12.000 Leichen in solchen Massengräbern gefunden. Mittlerweile lebt niemand mehr, der als Zeitzeuge zur Verfügung stehen könnte. Wenn die Vermissten nicht gemeldet und keine DNA-Proben von Familienmitgliedern abgegeben wurden, besteht kaum Aussicht, dass die exhumierten Leichen zugeordnet werden können. Es gibt noch sehr viele bereits bekannte Massengräber, bei denen noch keine Ausgrabungen stattfanden, und über die Anzahl der Ermordeten kann man nur Vermutungen anstellen. Das Franco-Regime dauerte bis zu dessen Tod im Jahr 1975, sodass die Aufarbeitung der Verbrechen erst spät beginnen konnte. Die sterblichen Überreste von Antoni Benaiges wurden bis heute nicht gefunden, in der Dorfschule wurde allerdings ein kleines Museum zu seinem Gedenken eingerichtet.


Wieso die Aufarbeitung der Geschichte relevant ist, erklärt Regisseurin Patricia Font:


"In der Interaktion dieser beiden Geschichten liegt eine Botschaft: Was in der Vergangenheit geschieht, wirkt sich immer in Form einer generationenübergreifenden Wunde oder Narbe auf unsere Gegenwart aus. Interessant finde ich dabei die These, dass wir in der Lage sind, diese Traumata unserer Vorfahren zu erben. Im Film haben Ereignisse, die in der Vergangenheit geschehen sind, eindeutig Auswirkungen auf die Figuren in der Gegenwart und deren Beziehung miteinander. Ariadna, die mit ihrem Großvater und ihrer Mutter in einem Klima des Schweigens und der Tabus aufgewachsen ist, ist eine zerbrechliche und verlorene Figur, die unter Angstzuständen leidet. Nun ist ihr Großvater an Altersdemenz erkrankt und nicht mehr in der Lage, von seiner Kindheit zu erzählen oder zu erklären, warum er über die Vorkommnisse dieser Jahre immer Schweigen bewahrte."


Dieses Schweigen ist typisch, denn Emilio erzählt, dass die Dorfbewohner gezwungen wurden, die Gräber auszuheben und wieder zuzuschütten. Sie wurden also zur Mitschuld genötigt, was ein zusätzlicher Grund für das beharrliche Verdrängen ist. Die transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumatisierungen ist aus gutem Grund Gegenstand fortgesetzter Forschung.



Der Lehrer Antoni Benaiges (Enric Auquer) erkundet mit seinen Schülern die Gegend und bringt ihnen sogar das Tanzen bei | © Filmmax / 24 Bilder

Helga Fitzner - 6. Februar 2025
ID 15135
Weitere Infos siehe auch: https://www.24-bilder.de/


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