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Bewertung:
Der fulminante Spielfilm Der Rausch des dänischen Regisseurs Thomas Vinterberg ist eine politisch wunderbar inkorrekte Sozialsatire, bei der Alkoholkonsum verharmlost und empfohlen wird. Neben vielen anderen internationalen Preisen ergatterte Vinterberg auch den Auslands-Oscar im Jahr 2021 dafür.
An Nikolajs (Magnus Millang) 40. Geburtstag treffen sich vier Freunde in einem teuren Restaurant und bekommen zu jedem Gang edle alkoholische Getränke serviert. Das ist Trinkkultur vom Feinsten, könnte man sagen, wobei wenigstens Martin (Mads Mikkelsen) zu Anfang sehr zurückhaltend ist. Mit steigendem Alkoholpegel wird die zuerst trübselige Stimmung dann doch noch gut, und die vier an der Midlife-Crisis leidenden Männer hecken einen Plan aus. Der norwegische Psychologe Finn Skårderud hat die fragwürdige Theorie in die Welt gesetzt, dass der Mensch ein Defizit an Alkohol habe und dass ein kontinuierlicher Promille-Spiegel von 0,5 sein eigentliches Bedürfnis sei. Und tatsächlich ist das Alkoholtrinken am schönsten, wenn man angesäuselt, aber noch nicht betrunken ist. Also beschließen die vier Lehrer – streng wissenschaftlich dokumentiert – künftig mit einem konstanten Alkoholpegel von 0,5 Promille zu unterrichten. Sie nehmen also Alkohol und Messgerät heimlich mit in die Schule, um zu wissen, wann sie nachtrinken müssen.
In Sachen Alkoholismus, vor allem unter Jugendlichen, ist Dänemark trauriger Rekordhalter in Europa, und das Thema war in Vinterbergs Filmen - er ist Mitbegründer der realitätsbezogenen Dogma-95-Bewegung - immer wieder vorhanden. Da es aber genug Filme gibt, die vor den Folgen exzessiven Alkoholkonsums warnen, befürwortet Der Rausch ihn, denn manchmal kann Satire durch den übertriebenen Blickwinkel durchaus zur Erkenntnis beitragen. Vinterberg und sein langjähriger Drehbuchautor Tobias Lindholm haben das Skript wieder gemeinsam verfasst und der dänischen Schauspiel-Legende Mads Mikkelsen auf den Leib geschrieben. Von den sehr restriktiven Dogma-Anforderungen, mit denen sich 1995 dänische Regisseure von der zunehmenden Realitätsferne im Film abwendeten, sind ein paar Restbestände durchaus zu finden. Zwar kommt es zu Übertreibungen, Slapstick und anderen Lockerungen der strengen Selbstbeschränkungen von Dogma, aber überwiegend ist der Film, wie gefordert, sehr wirklichkeitsnah, verzichtet auf Spezialeffekte, Verfremdungen und unnötige Schnörkel. Von der von Dogma 95 geforderten ausschließlichen Handkamera haben die Macher gescheiterweise Abstand genommen. Der recht minimalistisch gefilmte Realismus geht unter die Haut, sodass weniger in diesem Fall sehr viel mehr ist.
Da die Schauspieler bei den Proben schon gerne mal „vorgeglüht“ hatten, verbot Vinterberg echten Alkohol während und außerhalb der Dreharbeiten. Daran haben sich auch alle gehalten, und es ist ein sehr intensiver und fokussierter Film geworden. Die Begleitumstände waren äußerst tragisch, denn Vinterberg war stark traumatisiert. Am vierten Tag der Dreharbeiten kam seine 19jährige Tochter Ida bei einem Autounfall ums Leben. Ein anderer Autofahrer war von seinem Handy abgelenkt und rammte den Wagen, in dem Ida saß. Sie hätte eine Rolle als Oberstufenschülerin übernehmen sollen, die Dreharbeiten fanden in ihrer ehemaligen Schule statt, und junge Leute aus ihrem Freundeskreis spielten einige der Schülerrollen.
Die dänische Crew vor und hinter der Kamera muss sehr empathisch und unterstützend gewesen sein, damit trotzdem eine derartige cineastische Perle entstehen konnte. Sowohl in Vinterbergs Realität als auch im Film spielten sich existenzielle Krisen ab. Der alleinstehende Sportlehrer Tommy (Thomas Bo Larsen) ist sehr einsam und verzweifelt daran, während der ebenfalls unverheiratete Musiklehrer Peter (Lars Ranthe) wenigstens Trost beim Hören richtig guter Musik findet. Nikolaj ist mit 40 der jüngste des Quartetts und hat noch drei junge Kinder. Die Ehe kriselt, weil seine Frau durch Überlastung und Schlafdefizit nicht auch noch den Alkoholexzessen ihres Mannes gewachsen ist. Denn die 0,5-Promille-Grenze wird im Laufe der Zeit deutlich nach oben verschoben. Während die Pädagogen anfangs wieder in der Lage waren, ihre Schüler und Schülerinnen zu inspirieren und auf die kommende Abiturprüfung vorzubereiten, kippt das sehr schnell. Wenn der Film in Sachen Alkohol überhaupt belehrt, dann durch die Unbelehrbarkeit seiner Protagonisten, z.B. wenn Peter einem Schüler mit Versagensangst ein paar Schlückchen im Vorfeld vorschlägt. Vinterberg zeigt das Verhalten der Lehrer, ohne es zu bewerten, durchaus freundlich, aber distanziert.
Der Geschichtslehrer Martin bekam sogar Ärger, weil er vorher derart langweiligen Unterricht veranstaltet hatte, dass die Klasse in Angst um ihren Abiturabschluss geriet. Mit Beginn des Alkoholexperimentes sprüht er wieder vor Elan und begeistert seine SchülerInnen. Sogar die Beziehung zu seinen zwei heranwachsenden Söhnen und seiner Frau Annika (Maria Bonnevie) verbessert sich, obwohl seine Frau sich innerlich schon längst von ihm gelöst hat. Die Rolle des fast mechanisch lebenden und desillusionierten Langweilers gibt einem Schauspieler so gut wie nichts an die Hand, womit er arbeiten könnte. Mikkelsen setzt selbst seine Mimik nur spärlich ein und bewerkstelligt alles über seine Augen und seine Blicke. Und da ist keine Luft mehr nach oben. Als Schauspieler hat Mikkelsen längst den Olymp erklommen, auch schon vor dem von Vinterberg inszenierten Film Die Jagd (2013), aber mit welch spärlichen Mitteln und welcher Intensität er einen Mann spielt, der immer wieder mit seiner Desillusionierung konfrontiert und im Laufe der Handlung auf seine Kreatürlichkeit zurückgeworfen wird, ist einfach meisterhaft. Und da Mikkelsen mehr kann als nur Schauspielern, gibt es am Ende sogar noch ein Zückerchen oben drauf.
Insgesamt ist der Film nicht ganz so überschwänglich geworden wie ursprünglich geplant, was aber zu seiner Wirkkraft und Tiefe beiträgt. Er wurde der verstorbenen Ida Vinterberg gewidmet, und bei all den Schmerzen, die Thomas Vinterberg durchlitten haben muss, ist Der Rausch am Ende ein Bekenntnis zum Leben geworden.
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Die Lehrer Martin (Mads Mikkelsen), Peter (Lars Ranthe), Nikolaj (Magnus Millang) und Tommy (Thomas Bo Larsen) betreiben Selbststudien in Sachen Alkoholkonsum © Henrik Ohsten, 2020 Zentropa Entertainments3 ApS, Zentropa Sweden AB, Topkapi Films B.V. & Zentropa Netherlands B.V.Stars
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Helga Fitzner - 22. Juli 2021 ID 13042
Natürlich gierten im Laufe von Mads Mikkelsens Karriere auch außer-skandinavische Filmproduktionen nach ihm. 2006 bekam er die Rolle des Gegenspielers in James Bond 007 – Casino Royale, von 2013 bis 2015 spielte er die Titelfigur in der US-amerikanischen Fernsehserie Hannibal und 2016 Nebenrollen in der Marvel-Verfilmung von Dr. Strange sowie Rogue one: A Star Wars Story, um nur einige zu nennen. Vielfach wird er in internationalen Produktionen auf die Rolle des Schurken reduziert. Die anspruchsvollsten oder wunderbarsten Charaktere spielte er aber in skandinavischen Filmen, z.B. unter der Regie von Anders Thomas Jensen (Adams Äpfel, 2005; Men & Chicken, 2015) oder unter der Regisseurin Susanne Bier (Nach der Hochzeit, 2006) . Diese schreiben, wie Vinterberg, an den Drehbüchern mit. Mikkelsen muss sich nicht einem vorgegebenen Skript beugen, es ist entweder auf ihn zugeschnitten oder er wurde aufgrund seiner vielfältigen Darstellungsfähigkeiten ausgewählt. Die SkandinavierInnen wissen auf jeden Fall, was für ein Diamant Mikkelsen ist und tragen dem Rechnung. Der Rausch ist wieder ein funkelndes Beispiel dafür. [h.f.]
Weitere Infos siehe auch: https://www.weltkino.de/filme/der-rausch
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