Das Ösi-
Fleischspieß-
Massaker
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Bewertung:
Bevor ich auf den Film zu sprechen komme, der im Februar in der Forumsreihe der BERLINALE zu sehen war, sei noch an das chinesische Meisterwerk Bis dann, mein Sohn aus dem Wettbewerb erinnert, dass ich damals ausführlich besprochen hatte und nun endlich in den deutschen Kinos anläuft. Das Drama illustriert am Beispiel eines Ehepaares die Folgen der Versprechungen und Verwerfungen einer gesamten Epoche in China – von Maos Kulturrevolution bis zum Wirtschaftswunder der 2000er Jahre. Das gefühlvolle Epos hat im Rückblick sogar noch gewonnen und hätte eigentlich der Goldene Bär sein müssen. Dass "nur" der bzw. die Hauptdarsteller/in Silbernbären erhielten, lässt auf einen Kompromiss der uneinigen Jury schließen. Aber sowohl die bereits vor einigen Wochen in den Kinos angelaufenen Dramen Gelobt sei Gott und Systemsprenger (nunmehr ernstzunehmender Oscar-Kandidat) waren von durchschlagenderer Wirkung als der Goldbär Synonymes.
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Auch der österreichische BERLINALE-Beitrag Die Kinder der Toten vermittelt Gesellschaftskritik auf sehr originelle Weise. Seit den Zeiten des seligen Christoph Schlingensief (1960-2010) gab es keinen Film von so schräger und ausgefallener Machart und so derb-provokativem Humor. Gut, dass es für solche Spielereien, die auf jede formelle Konvention pfeifen, das BERLINALE-Forum gibt, wo der Film sinnvollerweise untergebracht war. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman der Literaturpreisträgerin und Enfant terrible der österreichischen Literatur, Elfriede Jelinek. Wie sooft, hier aber in besonders grenzüberschreitender und vulgärer Weise, setzt sich Jelinek in Die Kinder der Toten mit dem nachwirkenden Faschismus und Chauvinismus österreichischer Prägung auseinander, der scheinbar unausrottbar zu einer bräunlichen Folklore gehört.
Ausgerechnet dem amerikanischen Performancekollektiv Nature Theater of Oklahoma hat Jelinek ihr wüstes Opus zur Verfilmung freigegeben – was sich als gute Wahl erwiesen hat. Nun gut: die Gruppe "steirischer Herbst" um Regisseur Ulrich Seidl war auch mit von der Partie. Die beiden Regisseure Kelly Copper & Pavol Liska haben die mäandernde, zerfransende Erzählung des Romans nicht einfach eingedampft – wobei sie gleichwohl die wichtigsten Motive, Ereignisse und Figuren beibehalten –, sondern in ganz andere stilistische Bahnen gelenkt: Die Provokation funktioniert nicht über Jelineks Sprache, (denn der Film ist stumm und mit Laien auf Super 8 gedreht!), sondern über einen semi-professionellen, trashigen Stil – als handele es sich bei der grotesken Mischung aus Zombieland und Alpendrama um einen außer Rand und Band geratenen Amateurfilm.
Mit dem Verzicht auf konventionelle Gestaltungsprinzipien verschaffen sich die Autorenfilmer die notwendige Freiheit, den anarchistischen, surrealen Ton des Romans in einen kongenialen Strom experimenteller bis abstruser Szenen zu transformieren. Das wilde, aber jederzeit unterhaltsame und spaßige Konglomerat zieht Provinzialität, Heimattümelei und Fremdenfeindlichkeit ebenso durch den Kakao wie die Genres Familiendrama, Heimat- und Zombiefilm. Den Inhalt des Films angemessen wiedergeben zu wollen, muss scheitern. Daher nur eine stichpunktartige Skizzierung dessen, was zu sehen ist:
Einige syrische Flüchtlinge erreichen ein Gasthaus in den Alpen und verwechseln die Werbung für steirische Spezialitäten („styrian food“) mit syrischen Mahlzeiten. Eine Gruppe mit blonden Perücken ausstaffierter Touristen verunglückt bei einem Busunglück und wird eher schlecht als recht notfallärztlich versorgt. Im Gasthaus werden Ehe- und Generationenkonflikte unversöhnlich ausgetragen und mit dem Essen gespielt. Die von ihrer Mutter mit Verachtung gestrafte Karin entflieht der Völlerei Richtung Alpenwälder, wo sie auf trottelige Jäger und ihre Doppelgängerin trifft. So muss Karin buchstäblich vor sich selbst fliehen. Abends wird für eine illustre Gesellschaft ein Schmalfilmabend abgehalten, bei dem die Bilder Verstorbener zu Tränen rühren. Doch plötzlich entsteigen die verstorbenen Österreicher – Hitler und seine Altnazis ebenso wie vergaste Juden, verunglückte Sportler, die Businsassen und misshandelte Kinder – den Gräbern, um in der Wirtsstube einen Zombiekarneval zu feiern. Die Tonspur dazu: ein göttlich-perverses Crescendo aus Volksmusik und Scratch-Rap! Die Lebenden wehren sich mit Schnitzeln und syrischen Fleischspießen, sind aber dem Untergang geweiht, während Karin und ihre herzlose Mutter einen letzten Ringkampf führen. Zum Schluss herrscht bei der untoten Opfer-Täter-Mischpoche Katerstimmung. Österreich hat den Exorzismus und die Verdrängung der Nazi-Schuld mal wieder verloren.
Ja, es sieht so abgefahren, schräg und irrwitzig aus wie es klingt! Danke für den Mut, einem eigentlich unverfilmbaren Buch halbwegs beigekommen zu sein! Und die Oklahoma-Performance-Truppe erweist sich als legitime Erbengemeinschaft der anarchischen Kunst eines W.C. Fields und den Marx-Brothers!
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Die Kinder der Toten | (C) Olymp Film
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Max-Peter Heyne - 14. November 2019 ID 11817
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