Die Grenzen
unserer
Geisteskraft
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Bewertung:
Dem neuen Film des japanischen Regisseurs und Drehbuchautors Ryūsuke Hamaguchi ging die Live-Performance von Musik der Komponistin Eiko Ishibashi voraus, für die Hamaguchi Filmclips drehte. Er vertiefte sich so sehr in diese Aufgabe, dass er zusätzlich eine Erzählung und Figuren ersann, die nun die Vorlage für Evil Does Not Exist [dt.: "Das Böse existiert nicht"] bilden. Der Einsatz von Ishibashis Filmmusik ist einzigartig und eine Erweiterung dessen, wie Filmscores bisher verwendet wurden. Schon gleich in den ersten Szenen werden großartige Aufnahmen von Baumwipfeln des Kameramanns Yoshio Kitagawa gezeigt, die mit dieser großartigen Musik nicht nur unterlegt sind, sondern mit den Bildern zu kommunizieren scheinen. Das stimmt auf die wesentliche Thematik des Films über ein harmonisches Leben mit und in der Natur ein.
Der Witwer Takumi (Hitoshi Omika) und seine achtjährige Tochter Hana (Ryo Nishikawa) leben im Einklang mit ihrer ländlichen Umgebung in einem kleinen Ort außerhalb von Tokio. Das mutterlose Mädchen liebt es, mit seinem Vater durch den geliebten Wald zu streifen, wo er ihr die Namen der Bäume und viel anderes Wissen über die Natur beibringt. Die nachbarschaftliche Gemeinschaft ist solidarisch, ökologisch bewusst und nachhaltig. In diese Idylle brechen zwei Mitarbeiter einer Consulting-Agentur ein, Takahashi (Ryuji Kosaka) und Mayuzumi (Ayaka Shibutani), deren Auftraggeber Land in der Gegend gekauft hat und dort eine Glamping-Anlage bauen will. Das Wort Glamping setzt sich aus glamourös und Camping zusammen und soll die gestressten Städter zum Urlaub aufs Land locken.
Das von ihnen vorgestellte Konzept weist erhebliche Mängel auf. So ist die Kläranlage nicht für alle Besucher ausgelegt, sodass ein Teil der Fäkalien ungeklärt in den Fluss abgelassen würde. Das dortige Quellwasser ist aber das Trinkwasser der Region. Auch soll das Grillen erlaubt werden, was in der trockenen und windigen Gegend eine große Gefahr darstellen könnte, wenn sich unerfahrene Stadtbewohner leichtsinnig verhielten. Es ist nichts wirklich durchdacht und würde sich sehr nachteilig auf den Ort auswirken. Takahashi und Mayuzumi erkennen mit Verwunderung, dass die Ansässigen keine Dorfdeppen sind, die sich durch Werbematerialien und Versprechungen blenden lassen, sondern sehr klare Vorstellungen und Forderungen haben. Doch der Auftraggeber macht Druck, will kein weiteres Geld investieren und noch zeitgerecht ausgeschriebene Subventionen kassieren. Der Film ist jedoch kein üblicher Öko-Thriller, sondern ein weiteres komplexes Werk des japanischen Oscar-Preisträgers (Drive My Car, 2021; Das Glücksrad, 2022), der zu den führenden Filmemachern des Independence-Kinos gehört. Er unterteilt nicht in gut und böse, sondern zeichnet ein vielschichtiges und beziehungsreiches Drama.
Hamaguchi zeigt keine grüne und blühende Landschaft, sondern einen kargen Wald am Ende des Winters, in dem noch Reste von Schnee liegen, in dem man leicht Spuren von Rehen erkennen kann. Wenn Takumi mit seiner Tochter durch das Gehölz wandelt, zeigt er ihr Lärchen und Kiefern, die Kleine identifiziert schon von alleine eine Eiche. Der Film ist in dieser Hinsicht weitgehend unspektakulär. Eine Ausnahme ist wilder Wasabi, auf den er den örtlichen Restaurantbetreiber aufmerksam macht, der einen Teil davon als Gewürz für seine Küche pflückt. Hamaguchi verleiht allen Figuren eine differenzierte Persönlichkeit, die nicht voll ausgeleuchtet wird. In seinen Filmen ist nichts eindimensional. Bei Hamaguchi liegt die Reichhaltigkeit und Fülle in der Gestaltung der Charaktere und der Achtsamkeit und dem Respekt, mit denen er sie zeichnet.
Auch die Agenturmitarbeiter haben ihre Geschichte. Takahashi ist bei einer Partner-App angemeldet, weil er heiraten will. Er hat während der Lockdowns gemerkt, wie einsam er ist. Mayuzumi arbeitete ursprünglich in der Pflege, will nicht heiraten und sich als Frau im Beruf verwirklichen. Beide haben seltsame Vorstellungen vom Leben mit der Natur. Für Takahashi ist Holzhacken eine Art Erweckungserlebnis, als es ihm nach mehreren Fehlversuchen gelingt.
Die Glamping-Geschichte wird nicht zu Ende erzählt, und der Schluss ist überraschend und erschütternd. An dieser Stelle sei nur so viel erwähnt, dass wir die Natur nicht beherrschen können und unser Schicksal auch nicht so richtig. Hamaguchi bringt seine Protagonisten an die Grenze ihrer Geisteskraft. Für einige Kritiker und Zuschauer war das Ende unbefriedigend. Der Regisseur hat die großen Themen, wie Kapitalismus und Eigennutz, auf das Alltägliche heruntergebrochen. Es gibt auch keine idealisierte Naturromantik, denn in der Natur gibt es Gewalt und Gefahren. Hamaguchi steht auf dem Standpunkt, dass unsere Welt und die Menschen viel zu komplex sind, als dass wir sie in vollem Ausmaß verstehen können, weshalb er dem Rätselhaften Raum gibt. Denn wenn eine Geschichte keine Geheimnisse habe, wäre sie kein Spiegel der Welt, meint er. Auch wenn es keine endgültigen und eindeutigen Schlüsse zulässt, ist dem Filmemacher erneut ein Drama gelungen, das berührt, wahrhaftig und zutiefst menschlich ist.
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Der Witwer Takumi (Hitoshi Omika) und seine achtjährige Tochter Hana (Ryo Nishikawa) leben im Einklang mit der Natur | © Pandora Film
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Helga Fitzner - 17. April 2024 ID 14703
Weitere Infos siehe auch: https://www.pandorafilm.de/filme/evil-does-not-exist.html
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