Augenzwinkernde
Melancholie
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Bewertung:
Der finnische Regisseur Ari Kaurismäki hatte sich im Jahr 2017 eigentlich schon in den Ruhestand verabschiedet, aber da kam eine Liebesgeschichte dazwischen, für die er das Drehbuch schrieb. Seine Werke lassen sich nicht in irgendwelche Schubladen stecken, es sei denn, man richtet eine eigene für ihn ein. Fallende Blätter ist wieder ein Melodram über Menschen am Rande der Gesellschaft, ausgebeutete Arbeitnehmer, Verlierer, Deprimierte und Verzweifelte in einem trostlosen Umfeld. Kaurismäkis Figuren sind wortkarg, jammern nicht und ertragen alles, nur dass eben jene Sprachlosigkeit so eloquent ist, dass sie manchmal zum Himmel schreit.
Ansa (Alma Pöysti) ist eine zuverlässige Arbeiterin in einem Supermarkt, in dem sie abgelaufene Waren aussortiert. Dort lässt sie mitunter ein verfallenes Lebensmittel mitgehen, obwohl das streng verboten ist, denn es muss weggeworfen werden. Aber der Hunger zwingt sie dazu. Als sie erwischt wird, bekommt sie die fristlose Kündigung. Danach kann sie nur ohne Lohnsteuerkarte arbeiten, ihr Arbeitgeber wird wegen Drogenhandels verhaftet, sodass sie ohne Bezahlung dasteht. Die Verhaftung findet auf offener Straße statt, und der anwesende Arbeiter Holappa (Jussi Vatanen) lädt sie zu einer Tasse Kaffee ein. Was folgt, ist eine Liebesgeschichte mit mehreren Hindernissen, denn er verliert ihre Telefonnummer, und da er ihren Namen nicht kennt, muss er auf einen Zufall warten. Und später ruiniert er ein Abendessen bei ihr, indem er zwischendurch zum Flachmann greift. Sie erklärt ihm, dass ihr Vater und ihr Bruder an den Folgen ihres Alkoholismus gestorben sind, und ihre Mutter aus Kummer darüber. Einen Säufer nimmt sie nicht. Daraufhin verlässt Holappa ihre Wohnung.
Mit seinem älteren Kumpel Huotari (Janne Hyytiäinen) „diskutiert“ er die Problematik. Er sagt, dass er deprimiert ist, weil er trinke. Auf die Frage, warum er trinke, antwortet er, weil er deprimiert ist. Das sind für Kaurismäki (Le Havre, 2012) schon erstaunlich viele Worte. Ähnlich bündig verläuft ein Gespräch zwischen Ansa und ihrer Freundin Liisa (Nuppu Koivo). Ansa hatte gehofft, dass Holappa anders wäre: „Sie wurden alle aus der gleichen Form gegossen. Leider war die kaputt“, antwortet die Freundin über Männer. Hopalla scheint in der Tat ein aussichtsloser Fall zu sein, und er verliert mehrfach hintereinander seine Arbeit, weil er während der Arbeitszeit trinkt. Geld für Alkohol und Zigaretten hat er irgendwie immer.
Kaurismäkis Geschichten sind zeitlos, so auch die Drehorte wie die Vorstadt mit den Industrieanlagen und Baustellen. Diese Tristesse hat sich in den über 40 Jahren seines Filmschaffens in diesem Sinne nicht geändert. Wenn er in Fallende Blätter nicht immer wieder einmal Radionachrichten über den Krieg in der Ukraine hören ließe, könnte man den Film zeitlich nicht einordnen. Der eigenwillige Regisseur hat sich auch wieder besondere Sachen einfallen lassen, um Armut zu illustrieren. Nachdem Ansa Hopalla zum Abendessen eingeladen hatte, musste sie erst einmal einen zweiten Teller und ein zweites Besteck kaufen. Und dann ist da die Großherzigkeit der Ärmsten der Armen. Als ein Straßenhund eingefangen wird und zum Einschläfern gebracht werden soll, nimmt Ansa ihn bei sich auf. Dann geschieht ein Unglück, und Hopalla...
Es lohnt sich, den Abspann zu schauen, denn da gibt es eine finnische Version des melancholischen Songs Falling Leaves von Joseph Kosma aus dem Jahr 1945, nach dem der Film benannt wurde. Die zahlreichen Musikstücke sind wieder einmal sensationell. Sie reichen von einem Schubert-Lied bei einem Karaoke-Abend bis hin zu einem Auftritt des Frauen-Duos Maustetytöt. Die beiden Schwestern Anna und Kaisa Karjalainen, die mit steinerner Miene einen absoluten Depri-Song vortragen, könnten durch diese Performance erweiterten Ruhm erlangen. In den 1980er und 1990er wurden die Leningrad Cowboys sehr bekannt, denen Kaurismäki damals gleich zwei Filme gewidmet hat.
In den Kneipen sitzen die Leute ungerührt vor ihren Gläsern, kommuniziert wird gar nicht oder selten. Auch wenn Ansa oder Hopalla ihrer Arbeit nachgehen, zu Hause sind oder Ansa in der Straßenbahn sitzt, erinnern sie an Zombies. Kein Wunder, dass sich Kaurismäki einen Zombie-Film ausgesucht hat, als er sie drehbuchgemäß ins Kino schickt: The Dead Don't Die, 2019 von Jim Jarmusch, einem der Independent-Regisseure, die – wie Kaurismäki – wirklich unabhängig ihre Vorstellungen realisieren. Beiden ist auch der lakonische Humor gemeinsam und der Kultstatus, den sie genießen.
Insgesamt haben sich die Figuren in ihrer Depression und der Trostlosigkeit gut eingerichtet, und Kaurismäki lässt sie darin schwelgen. Ansa, Hopalla, Liisa und Huotari haben die Hoffnung allerdings nicht aufgegeben. Sie pflegen ihre Freundschaften und stellen sich, so unverdrossen wie möglich, dem Alltag und seinen Widrigkeiten. Den Glauben an die Liebe halten sie aufrecht. Und manchmal wird Beharrlichkeit belohnt, im Film und auch im Leben. Kaurismäki hat es wieder einmal geschafft, Alltägliches in Poesie zu verwandeln.
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Es kommt zu einem gemeinsamen Abendessen bei Ansa (Alma Pöysti), das Holappa (Jussi Vatanen) aber durch seinen Alkoholkonsum ruiniert | © Sputnik, Malla Hukkanen
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Helga Fitzner - 14. September 2023 ID 14386
Weitere Infos siehe auch: https://www.pandorafilm.de/filme/fallende-blatter.html
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