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Viggo Mortensen ist ein Multitalent: Schauspieler, Dichter, Fotograf, Musiker, Maler und nun auch Filmregisseur. Für seinen Debütfilm Falling hat er ebenfalls das Drehbuch sowie die Musik geschrieben und fungiert auch als Produzent. Der Film hätte 2020 in die Kinos kommen sollen, aber er hat klugerweise gewartet und den Starttermin immer wieder nach hinten verschoben. Auf die Verbreitung im Kino zu verzichten und den Film nur auf DVD und Blu-Ray herausbringen, kam offensichtlich nicht in Frage. Und das wäre auch sehr schade gewesen.

Das Alter mag eine Gnade und ein Segen sein, aber auch herausfordernd, vor allem wenn die Körperkräfte oder noch schlimmer die Gedächtnisleistung nachlassen. Der alte Willis (John Lance Henriksen), der allein auf einer entlegenen Farm im Nordosten der USA lebt, muss deswegen seinen Sohn John (Viggo Mortensen) um Hilfe bitten. John holt seinen Vater zu sich nach Kalifornien, aber der reagiert auf ihn mit Aggressivität und wüsten Beschimpfungen. Doch Falling ist weit mehr als nur ein Film, der die Schwierigkeiten im Umgang mit Demenzkranken beschreibt, Mortensen stellt hier zwei diametral entgegengesetzte Welt- und Menschenbilder gegenüber. Denn der grantelnde und randalierende Willis ist noch der Idee verhaftet, dass Macht und Unterdrückung ausgeübt werden müssen, und zwar von einer (vermeintlich) überlegenen Gruppe, die von weißer Hautfarbe, männlich und heterosexuell zu sein hat. In den Rückblenden erkennt man, dass auch der junge Willis (Sverrir Guðnason) schon diese Einstellung hatte, mit der er seine Familie terrorisierte und schließlich seine Ehe ruinierte. Die Eskalation im Alter ist im Film nur eine Weiterführung seiner bestehenden Grundeinstellung, gepaart mit der Angst, die durch die Demenz ausgelöst wird.

Mortensen hat die Handlung in die Regierungszeit von Barack Obama verlegt, dem ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten, was seinem Vater aber nicht zu denken gibt. Für ihn haben sich die Zeiten nicht gewandelt, und damit steht er stellvertretend für eine ganze Gesellschaftsgruppe, die noch an der Vormachtstellung der weißen Männer festhält, die rassistisch, homophob und frauenfeindlich sind, und für die ein Umdenken nicht in Betracht kommt. Willis attackiert seinen homosexuellen Sohn ständig, obwohl dieser ein vorbildliches Leben führt. John ist Pilot und sein Ehemann Eric (John Terry Chen) arbeitet im Schichtdienst als Krankenpfleger. Sie kümmern sich kompetent und liebevoll um ihre zehnjährige Adoptivtochter Mónica (Gabby Velis). Beide sind verantwortungsvoll und gehen respektvoll miteinander und ihren Mitmenschen um. Durch die ständigen Angriffe und Beschimpfungen gerät John aber an seine Grenzen. Für den/ die Zuschauer ist es bald nicht mehr erträglich, und man kann kaum noch nachvollziehen, dass John sich das gefallen lässt. Aber genau darum geht es. John und seine Familie stehen für ein anderes Welt- und Menschenbild, das auf Liebe, Geduld, Respekt und Achtsamkeit beruht.

Mortensen dazu: „Wir versuchen unser ganzes Leben lang, Menschen so zu formen, dass sie zu dem werden, was wir in ihnen sehen wollen – anstatt sie so zu akzeptieren, wie sie sind. Dadurch gibt es eine große Diskrepanz zwischen dem, was wir wahrnehmen und dem, wie die Dinge tatsächlich sind. Dieses Missverhältnis führt mit der Zeit zu Spannungen und zu gegenseitigem Missverständnis.“ Das gilt insbesondere für Eltern. Der junge Willis nimmt seinen feinfühligen Sohn viel zu früh mit auf die Jagd. Er nimmt damit eine Traumatisierung des Jungen in Kauf, den er unbedingt zum Mann machen will. Als Winzling erschießt John seine erste Ente, versteht aber nicht, was passiert ist und nimmt den toten Vogel anschließend mit ins Bett. Seine kindliche Psyche hat ihn vor Schaden bewahrt. Trotzdem war das Verhalten seines Vaters verantwortungslos. Auch als Erwachsene setzen John und seine Schwester Sarah (Laura Linney) ihrem Vater nichts entgegen. Und das ist schmerzlich, denn all die Geduld, Rücksichtnahme, Akzeptanz der ständigen Verschmähungen und Verletzungen werden von Willis nicht als Akt der Liebe und Vergebung verstanden, sondern als Schwäche interpretiert und mit Verachtung vergolten.

Mortensen hat einen komplexen Film gedreht und mit dem erfahrenen Kameramann Marcel Zyskind eine entsprechende, teils poetische Filmsprache entwickelt, und für den Schnitt Ronald Sanders engagiert, der oft mit dem Regisseur David Cronenberg zusammenarbeitet, der wiederum eine kleine und wunderbare Rolle in Falling hat. Alle Rollen sind bis ins Kleinste gut besetzt, Mortensen verzichtet auf jegliche Effekthascherei und inszeniert den 80jährigen, überragenden John Lance Henriksen in der bemerkenswertesten Rolle seines Lebens. Mortensen hat die Rolle des erwachsenen John übernommen, um damit die Finanzierung zu sichern, und spielt in gewohnter Intensität und Eindrücklichkeit. Im Drehbuch hat er eigene Erfahrungen mit demenzkranken Verwandten verarbeitet, wodurch eine Authentizität entstanden ist, die manchmal unter die Haut geht. Es entfaltet sich ein existenzielles menschliches Drama, das aber als Lichtblick den liberalen, toleranten und liebevollen Lebensentwurf von John und seiner Familie zum Gegenpol hat. Dieses Lebenskonzept ist ein universell taugliches Menschen- und Weltbild, das auf Gemeinsamkeit statt soziokultureller Spaltung beruht und auf Zukunftsfähigkeit ausgerichtet ist.



Der Unterschied von Mann zu Mann anhand des aggressiven Vaters Willis (Lance Henriksen) und des empathiefähigen Sohnes John (Viggo Mortensen) | © Prokino

Helga Fitzner - 10. August 2021
ID 13076
Weitere Infos siehe auch: http://www.falling-derfilm.de


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