UNSER NEUE GESCHICHTE (Teil 54)
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Schicksals-
gemeinschaft
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Bewertung:
Das überwiegend beschauliche Leben der kleinen schwarzen Katze ist von einem Augenblick auf den anderen vorbei, als plötzlich eine Flutwelle gigantischen Ausmaßes eintrifft, die nach und nach alles überschwemmt. Die Katze kann sich auf ein altes Segelboot retten, in dem sich aber schon ein Capybara, eine südamerikanisches Wasserschwein, eingerichtet hat, das aber sehr friedlich ist und den Neuankömmling duldet. Sie müssen hilflos mit ansehen, wie ihre ganze Welt unter den Wassermassen verschwindet.
Mit Flow hat der lettische Regisseur Gints Zilbalodis einen ungewöhnlichen Animationsfilm geschaffen, der aber einen Nerv getroffen hat und mit über 70 Nominierungen für Auszeichnungen das kleine Kinoland Lettland in den Blickpunkt gerückt hat. Dabei kann Zilbalodis mit den großen Firmen wie Pixar oder Disney technisch nicht konkurrieren, will es auch gar nicht. Er hat tatsächlich die kostenlose 3D-Grafiksoftware Blender verwendet, die mit der Echtzeit-Rendering-Software Eevee verbunden ist, und damit respektable Bilder geschaffen. In einer utopischen Welt, in der die Menschen längst verschwunden sind, hat sich die Natur gut erholt, die der Regisseur und Drehbuchautor (Skript zusammen mit Matīss Kaža), sehr detailliert in ihrer Schönheit und Üppigkeit zeigt. Bei der Zeichnung der Tiere geht er dagegen sehr vereinfacht vor. Rein technisch hätte er sie z. B. mit einzelnen erkennbaren Fellhaaren darstellen können, aber er wollte sie bewusst rudimentär und damit universell halten. Bei der Umsetzung ihrer Bewegungen haben er und sein Team, darunter Léo Silly-Pélissier (Animation) allerdings großen Wert auf Genauigkeit und Authentizität gelegt.
Der Film kommt völlig ohne menschliche Sprache aus und eine eigentliche Handlung liegt auch nicht vor, denn in Flow ist alles im Fluss und das Boot den Elementen ausgesetzt. Dann gesellt sich ein großer weißer Schreitvogel mit verletztem Flügel dazu, der seinen Schwarm verloren hat und keiner bekannten Spezies angehört. Er ist in der Lage, das Ruder zu übernehmen und das Boot zu steuern. Manchmal stoßen sie noch auf hoch gelegene Landmassen, die aber auch kurz vor der Überflutung stehen. Dabei retten sie zwei eingeschlossene Tiere: einen Golden Retriever und einen Lemur. Mit seiner Größe, Agilität und Verspieltheit erschreckt der Retriever die anderen Tiere, und der Lemur hat einen Korb mit nutzlosem Plunder mit aufs Boot genommen, mit dem er sich beschäftigt und, womit er die aktuelle lebensbedrohliche Situation ignoriert. Doch nach und nach lernen die Tiere, sich den Begebenheiten anzupassen. Zilbalodis beschreibt den Werdegang der Katze:
"Die Katze ist nicht auf der Suche nach einer bestimmten Sache o. ä. Das Narrativ ist stattdessen direkt mit ihren Ängsten verknüpft. So klettert sie ständig, um Probleme zu vermeiden, auf etwas hinauf. Sie klettert auf ihr Haus, auf den Mast des Bootes, auf die riesigen Türme, alles mit dem Ziel, vor Problemen davon zu laufen. Ich denke, diese Verhaltensweise ist sehr menschlich, viele handeln so, ich wahrscheinlich auch. Ich
versuche oft, unangenehmen Dingen aus dem Weg zu gehen. Aber am Ende entscheidet sich die Katze, herunterzuklettern, sich den Herausforderungen zu stellen und Risiken einzugehen. Auch wenn sie sich damit unwohl fühlt."
Auch wenn die Tiere bewusst nicht vermenschlicht werden, repräsentieren sie doch menschliche Eigenschaften. Der Capybara gehört zu den sozialsten und friedlichsten Tieren, d.h. er ist schon da, wohin sich die anderen allmählich entwickeln. Die Katze überwindet ihre Scheu vor dem Wasser und taucht nach Fischen. Sie fängt mehrere und teilt sie sogar. Der riesige Vogel bekommt den kleinsten Fisch, aber immerhin hat das Kätzchen teilen gelernt.
Die Gemeinschaft bricht auseinander, als die Mehrheit der Tiere entscheidet, eine in den Wassermassen eingeschlossene Hundemeute mit ins kleine Boot zu lassen. Der mythische Vogel hat dagegen gestimmt und verlässt das Boot. Erwartungsgemäß bringt die Meute die Schicksalsgemeinschaft durcheinander, weil sie sich nicht verändert. Im Verlauf der Geschichte müssen der Retriever und der Lemur entscheiden, ob sie sich ihrer Meute bzw. ihrer Horde anschließen. Zilbalodis erklärt:
"Alle dargestellten Tierpersönlichkeiten beschreiben die Beziehung Gesellschaft versus Individuum. Abgesehen von der Katze und dem Hund kommt im Film ein Lemur vor. Wir sehen ihm dabei zu, wie er eine Menge Zeug sammelt. Plötzlich realisieren wir, dass er das macht, weil er denkt, dass er nur aufgrund seiner materialistischen Werte von anderen akzeptiert wird, nicht aufgrund seiner Persönlichkeit. Der Lemur repräsentiert damit auch die Idee der Zugehörigkeit in einer Gesellschaft."
Flow ist eine Art Versuchsanordnung: Was passiert, wenn man im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen weggezogen bekommt? Durch die Animation und Tiere als Protagonisten verallgemeinert der Filmemacher das Ausgeliefertsein an eine Situation, die jenseits der bisherigen Erfahrungswerte liegt und bei der man auf sich selbst zurückgeworfen wird. Das Überleben hängt dabei von der Fähigkeit zur Zusammenarbeit und zur Empathie ab. Dabei muss man Entscheidungen aus dem jeweiligen Augenblick heraus treffen und deswegen sehr präsent sein, um im Fluss zu bleiben.
Der Film hat unglaublich schöne Schauwerte, wenn das Boot durch einst durch Menschen geschaffene Architektur oder durch herrliche Landschaften schippert. Das Wasser wirkt nicht nur bedrohlich, Zilbalodis schildert auch die Faszination der Unterwasserwelt. Mit dem Vogel und einem riesigen Meeresbewohner, der halb Wal halb Drachen zu sein scheint, bringt er auch Mystik mit ins Spiel, weil es diese Tiere nicht gibt. Er ist in allem zu vage, als dass Flow dabei didaktisch wirken könnte. Auf jeden Fall ist ihm inhaltlich wie visuell ein ungewöhnlicher und faszinierender Film gelungen, der, was selten genug ist, bei Kritikern, dem Publikum und den Kollegen einhellig Lob und Anerkennung erfährt und regelrecht gefeiert wird.
Neben etlichen anderen Preisen erhielt Flow auch den Oscar als bester animierter Film, obwohl noch vier weitere hochkarätige Animationen nominiert waren. Zilbalodis dankte u. a. dafür, dass damit ein Werk unabhängiger Filmemacher gewürdigt wurde, sowie der freien Software Blender und seinen Haustieren. Er schloss seine Dankesrede ohne konkreten Bezug auf aktuelle politische Ereignisse mit den Worten:
„We are all in the same boat. We must overcome our differences and find ways to work together. - Wir sitzen alle im selben Boot. Wir müssen unsere Unterschiede überwinden und Wege zur Zusammenarbeit finden.“
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Der verspielte Golden Retriever und der das Boot steuernde große weiße Vogel könnten unterschiedlicher nicht sein | © MFA+Filmdistribution
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Helga Fitzner - 5. März 2025 ID 15173
https://www.mfa-film.de/kino/id/flow/
Post an Helga Fitzner
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