Spiel ohne
Grenzen
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Bewertung:
Der neue Film von Valeria Bruni Tedeschi als Regisseurin erzählt autobiografisch stark gefärbt von der Zeit ihrer Ausbildung zur Schauspielerin an der legendären Theaterschule Théâtre des Amandiers zu Beginn der siebziger Jahre in Nanterre westlich von Paris (deshalb heißt der Film im Original schlicht Les Amandiers). Die Phänomene und Probleme, die Tedeschi illustriert, liegen in der Vergangenheit, wabern aber bis in die Gegenwart hinein – und zwar auf eine Weise, die der Regisseurin in Frankreich großen persönlichen Ärger beschert haben. Und das, obwohl der Film sehr klar und bisweilen schonungslos illustriert, was passieren konnte, wenn man das "Glück" hatte, an Les Amandiers angenommen und eine oder einer der auserwählten Eleven des manischen Leiters der Schule, Patrice Chéreau, zu werden: Treffen Tedeschis Schilderungen zu, war die Ausbildung oft von unzumutbarem psychischem, aber bisweilen auch physischem Machtmissbrauch geprägt, der heute mit dem modischen Begriff der Toxität bezeichnet wird.
Das erklärte Ziel Chéreaus (1944-2013) war das Aufbrechen bürgerlicher Konventionen in der Schauspielerei, insbesondere am Theater, weg vom bloßen "So tun als ob" hin zu einer vertieften, die gesamte Persönlichkeit umfassenden und fordernden Schauspielerei. Es war quasi die ins Extreme gesteigerte Methode des russischen Regisseurs und Lehrers Konstantin Stanislawski (1863-1938), der das Erleben der Rolle forderte, damit die Darstellung intensiver und glaubwürdiger wirke. In Forever Young werden die Theaterproben regelmäßig zu einer emotionalen Grenzerfahrung für die Schüler/innen, die durch Rivalitäten und persönliche Versagensängste noch gesteigert werden. Geradezu hemmungslos üben die Lehrer/innen emotionalen Druck auf ihre ungeschützten Schützlinge aus, um deren Leiden ins Spiel zu übertragen. Wer diese Hemmungslosigkeit nicht als Voraussetzung für überzeugendes Agieren akzeptiert und diese Art Spiel ohne Grenzen im wahrsten Sinne des Wortes nicht mitspielt, fliegt raus.
Andere, die das "Glück" haben, an der Schule belieben zu können und an ihre Grenzen geführt zu werden, müssen einen Spagat zwischen Hypersensibilität und Ellenbogenmentalität hinbekommen, um nicht in eine gefährliche Abwärtsspirale von psychischer Abhängigkeit, Drogenkonsum und Wahnvorstellungen zu geraten. Nun zeigt Tedeschis Film beileibe nicht nur die Schattenseiten dieser Ausbildung, sondern auch viele glückliche Momente unter den Auszubildenden. Doch auch dann wird die ausgelassene Stimmung durch bedrohliche Szenarien getrübt: Die heimlich ausgelebte Promiskuität innerhalb der Schülerschaft wird durch die damals neuartige AIDS-Gefahr aufgedeckt und lebensbedrohlich. Manch berufsbedingter Narzissmus sprengt freundschaftlich-kollegiale Verbindungen. Und dann ist da der Säulenheilige Chéreau (Louis Garrel), der zusammen mit seinem kumpelhafterem, aber nicht minder exzentrischem Ausbilder (Micha Lescot) mal Zuckerbrot, aber meistens Peitsche benutzt, schwule sexuelle Übergriffe inklusive.
Valeria Bruni Tedeschi bietet trotz der Fokussierung auf den Handlungsort Theaterschule, die von den Schüler/innen sicher auch in der Realität wie eine Blase empfunden wurde, ein Sittenbild der damaligen Zeit: die emotionalen Exzesse vor und hinter der Bühne sind das Echo einer allgemeinen liberalen Aufbruchstimmung, nicht zuletzt im Kulturbereich. Dass ein enfant terrible wie Chéreau wie ein Theatergott wahrgenommen wurde – dessen künstlerische Innovation und Verdienste außer Frage stehen – ist ebenfalls nur aus der Situation der damaligen Zeitumstände nachzuvollziehen. Der deutsche Titel Forever Young trifft das Thema des Films insofern, als dass eine (Schauspiel-)Generation gezeigt wird, die von der Lust auf Neues, Provokatives und Verbotenes getrieben wird, mit der die Welt tatsächlich ein Stück ins Bessere verändert werden könnte.
Am klarsten kommt dieser Anspruch bzw. die Lebenslust in Person der hübschen Blondine mit Schmollmund im Figurenensemble zum Ausdruck: Stella (Nadia Tereszkiewicz) ist wohl das alter ego Tedeschis und bringt die nötige Mischung aus Selbstbewusstsein und Sensibilität mit, die ihr hilft, die extremen Erlebnisse an der Theaterschule und im Privatleben zu überstehen. Denn obwohl Stella weiß, dass ihr Mitschüler Etienne (Sofianne Bennacer) psychisch labil ist und zu auto- und fremdaggressivem Verhalten neigt, lässt sie sich mit ihm auf eine Beziehung ein – nicht zuletzt zur gegenseitigen Stärkung gegenüber den Herausforderungen der Ausbildung. Und nun die absurde, bittere Pointe, die die Themen des Films in die heutige Realität hinein verlängert: Ausgerechnet dem (schauspielerisch hervorragendem) Bennacer wurden von vier Frauen sexueller Missbrauch vorgeworfen, weswegen die französische Justiz gegen ihn ermittelt. In diesem Zusammenhang wurden auch Boykottaufrufe gegen diesen Film geäußert, woraufhin die Regisseurin ihn – nicht nur als Schauspieler – verteidigte. Wie sich kurz darauf herausstellte, führen Bennacer und die deutlich ältere Valeria Bruni Tedeschi eine Beziehung. Was nach einer veritablen Fortsetzung von Forever Young klingt, ist in Wahrheit ein Drama.
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Forever young | (C) Neue Visionen
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Max-Peter Heyne - 18. August 2023 ID 14339
Weitere Infos siehe auch: https://www.neuevisionen.de/de/filme/forever-young-131
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