Unerwünschtes
Potential
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Bewertung:
Die Euphorie war groß. Als der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall, den nach ihm benannten Gebäudekomplex im Jahr 1963 einweihte und einen Baum pflanzte, konnte man die Begeisterung noch spüren. Mit diesen Dokumentaraufnahmen beginnt der Spielfilm Gagarin – Einmal schwerelos und zurück der beiden Filmemacher Fanny Liatard & Jérémy Trouilh. In den 1960er Jahren befand sich die Welt im Aufbruch, denn der Traum von der Eroberung des Weltraums war durch Gagarin ein Stück nähergerückt. Es war aber auch einer der Gipfelpunkte des Kalten Krieges und der Wettlauf um die erste Mondlandung war in vollem Gange.
Allerdings musste man auch irdische Probleme lösen, und so sorgten Städteplaner in vielen Ländern der Welt dafür, dass die Slums in den Innenstädten abgerissen und die einkommensschwachen und unerwünschten Menschen in riesige Hochhäuser in den Vorstädten verfrachtet wurden. Die Cité Gagarine, südöstlich von Paris gelegen [s. Foto unten], war eines davon und verfügte über 374 Wohneinheiten auf 13 Stockwerken. Diese Projekte waren hochgepriesen, wurden aber schnell von der Realität eingeholt. Die aus unterschiedlichen Ethnien, Herkunftsorten und Kulturkreisen zusammengewürfelten, nahezu mittellosen Bewohner waren weitgehend sich selber überlassen, es wurde auch keine ausreichende Instandhaltung betrieben, sodass diese Vororte bis heute Problembezirke sind. Immer wenn in Frankreich Proteste entstehen, brennen die Banlieuses ebenfalls, wo die an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Bewohner auf ihre Benachteiligung teils gewalttätig aufmerksam machen. Diese Vororte haben einen furchtbaren Ruf, weil sich dort Verfall, Verwahrlosung, Perspektivlosigkeit, Kriminalität, Suchterkrankungen und vieles mehr verbreiten.
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Als die Dokumentarfilmer Liatard & Trouilh 2014 den Auftrag erhielten, einige der dort wohnenden Menschen zu interviewen, fanden sie die Vorurteile bestätigt, waren aber erstaunt, wie sich das Leben und auch das Miteinander dort Bahn gebrochen hatten. Ihnen war klar, dass sie vor dem geplanten Abriss des Kolosses zurückkehren würden, um dort die eigentliche, zauberhafte Geschichte des Bauwerks zu erzählen, was allein dokumentarisch nicht möglich sein würde. Deshalb entschieden sie sich sich, ihren ersten fiktiven Spielfilm zu drehen. Und was für einen. Sie schafften es, dem architektonischen Ungetüm ein Eigenleben und eine Magie zu verleihen, die im diametralen Gegensatz zu seinem Aussehen und seiner uninspirierten Umgebung stehen.
Als Hauptperson ersannen sie den 16jährigen Youri (Alséni Bathilym), der noch nie aus der Vorstadt herausgekommen ist und Astronaut werden will. Schließlich wurde er nach Juri (Youri) Gagarin benannt. Der schwarze Teenager lebt alleine in der Wohnung, weil seine Mutter anderswo eine neue Familie gegründet hat und ihn dort nicht haben will. Das ist einer der Gründe, warum er dem geplanten Abriss entgegenwirken will. Zusammen mit seinem arabischen Blutsbruder Houssam (Jamil McCraven) und dem Roma-Mädchen Diana (Lyna Khoudri) setzt er alles daran, die Cité Gagarine zu erhalten. Diana ist technisch hochbegabt, und auch Youri bringt sich über Youtube-Videos alles bei, was er braucht. Die drei Teenager erregen den Widerstand der Nachbarschaft, weil einige froh sind, dem maroden Hochhaus entkommen zu können. Doch das Trio besorgt sich „kreativ“ das Material, das es zur Renovierung des Gebäudes braucht. Eine große Anzahl von verschiedenen Lichtquellen gehört dazu und die zumindest versuchte Reparatur des Aufzugs. Als dann die Begehung stattfindet, staunt die amtliche Untersuchungskommission nicht schlecht darüber, aber die baufällige Statik des Baus und der Grad der Asbestverseuchung lassen keine andere Entscheidung als die Demontage zu.
Die umtriebigen Jugendlichen besorgen eines Tages eine riesige Plane, die sie im Außenbereich aufspannen, unter deren Lichtschutz die Menschen zusammenkommen und eine totale Sonnenfinsternis beobachten können. Das hält die Bewohner aber nicht vom Auszug ab, und es ist das letzte Mal, dass die Nachbarschaft zusammenkommt, denn nach und nach ziehen alle weg: bis auf Youri, der alleine zurückbleibt. Vorbei sind die Zeiten, in denen seine Nachbarin Fari (Farida Rahouadj) ihn bemuttert, indem sie ihm zu essen gibt oder in ihrem Auto ans Steuer lässt. Auch da ist Youri eine Naturbegabung, aber der Führerschein ist genauso weit entfernt wie seine Karriere als Astronaut. Es finden keine Gruppentänze auf dem Dach mehr statt, und auch eine Schar von nicht mehr ganz jungen und nicht sehr schlanken Frauen, die sich unter dem Spott herumlungernder Jugendlicher unverdrossen zum Joggen getroffen hat, ist Geschichte.
Youri erhält nur noch Besuch von Diana und dem Drogendealer Dali (Finnegan Oldfield), die sich heimlich in das abgesperrte Gebäude schleichen, aber auch die werden irgendwann vertrieben. Mutterlos und ohne Diana, zu der sich eine zärtliche Liebesgeschichte entwickelt hat, flüchtet sich Youri in eine Fantasiewelt. Nach astrologischen Karten hat er das Sternensystem nachempfunden, indem er Löcher in die Wand gebohrt hat, was wunderbare Lichtspiele erzeugt. Er hat sich mit Hilfe von Youtube-Videos eine Raumstation nachgebaut inklusive eines Biotops, in dem er sein eigenes Gemüse anbaut. Das Rohmaterial für seine Raumkapsel hat er sich aus den verlassenen Wohnungen besorgt, deren Wände so hauchdünn sind, dass er sie mit wenigen Hammerschlägen zertrümmern konnte.
Die Bauarbeiter, die den Asbest entfernen und die in ihrer Schutzkleidung ein wenig wie Astronauten aussehen, ahnen von Youris Anwesenheit nichts, der in seiner Fantasie seine ganz eigene Space Odyssee erlebt. Dabei erwacht das Gebäude zu einem erstaunlichen Eigenleben. Was das Regie-Duo da geleistet hat, ist ganz erstaunlich. Und sie haben dabei ihre ganz eigenen Visionen umgesetzt, unabhängig von Genres, filmischen Vorbildern oder Klischees, was am ehesten als magischer Realismus eingeordnet werden kann. Sie haben sich mit Respekt auf das Gebäude eingelassen, das Hunderten von Menschen eine Heimat war, im Guten wie im Schlechten, und für junge Menschen wie Youri die einzige, die sie kannten. In gewisser Weise widerfährt diesem Ort, stellvertretend für andere, eine gewisse Gerechtigkeit, denn er hat unter widrigsten Umständen Menschen hervorgebracht, die kreativ, gemeinschaftlich orientiert und mit verschiedenen Begabungen ausgerüstet sind. Da ist so viel liegen gebliebenes Potential, das leider unerwünscht ist, denn diese ausgegrenzten Menschen sind weitgehend von der Gesellschaft ausgeschlossen. Gut, dass es einen hervorragenden Film gibt, der darauf aufmerksam macht und dabei noch ein Kinogenuss ist.
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Die Cité Gagarine war einer der riesigen Wohnkomplexe in den Vororten von Paris | © Film Kino Text
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Helga Fitzner - 14. August 2024 ID 14870
Weitere Infos siehe auch: https://www.filmkinotext.de/
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