Die Poesie der
Gabelstapler
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Bewertung:
Heute (13. November) ist auf ARTE die Free-TV-Premiere von In den Gängen [s. URL unten].
Der Leipziger Regisseur Thomas Stuber schildert darin das geheime Leben in den Lagerräumen eines Großmarktes. Gleich zu Anfang sehen wir zu den Klängen von An der schönen blauen Donau von Johann Strauß eine Art Gabelstapler-Ballett - in den Gängen! Diese leicht überhöhte Darstellung gibt dem Personal eine gewisse Würde, mit der sie von anderen in der Regel nicht behandelt werden, die sie sich aber zum Teil gegenseitig verleihen. Im Film haben sie nur Vornamen, was schon Ausdruck einer Reduzierung ist, denn sie haben den reibungslosen Einkauf der Kundschaft zu gewährleisten, bei dem sie oft genug unsichtbar sind, wenn sie nicht gerade im Laden Regale auffüllen. Der Zusammenhalt und die Fürsorge füreinander ist ein Gegengewicht zu dieser Anonymität und ein bezeichnendes Merkmal, auch wenn es durchaus eine Hackordnung und Missstimmungen gibt.
Bruno (Peter Kurth) kommt allmählich in die Jahre und ist gar nicht begeistert, als er den Neuling Christian (Franz Rogowski) anlernen soll. Der Neue erzählt nicht viel von sich, und das ist angesichts seiner Vergangenheit auch gut so, aber er lässt sich von Brunos Begeisterung für das Gabelstapeln anstecken und in die Meisterschaft dieser durchaus als Kunst zu bezeichnenden Tätigkeit einführen. Es ist erstaunlich, wie die beiden Schauspieler Getränkekisten meterhoch bis unter die hohe Decke stapeln. Das ist eine wackelige Angelegenheit und erfordert ein ungeheures Geschick und Präzision. Man zittert förmlich mit, damit nicht Dutzende aufeinandergestapelte Kisten mit Flaschen herunterpoltern. Der Markt ist ein Universum für sich, die ArbeiterInnen arbeiten in verschiedenen Abteilungen, die nicht nach Personen, sondern nach den Waren benannt sind, wie „Getränke“, Waschmittel“ oder „Süßwaren“.
Das Leben der ProtagonistInnen scheint so trist wie die abgelegene Gegend des Großmarktes in einem nicht definierten Ödland im Osten der Republik. Es ist eine eingeschworene Gruppe, die zusammenhält. Als Christian mit der verheirateten Marion (Sandra Hüller) flirtet, wird er mehrfach gewarnt. Die ältere Kollegin Irina (Ramona Kunze-Libnow) sagt ganz klar, dass er Marion auf keinen Fall weh tun dürfe. Denn der verliebte junge Mann interpretiert die Keckheit der jungen Frau falsch, die damit nur ihr eigenes Elend überspielt. Die meisten sind recht froh, überhaupt Arbeit zu haben. Sonnenbäder gibt es allenfalls bei eisigen Temperaturen im Hinterhof, denn Urlaub im Süden können sich die wenigstens leisten. Sie führen sich als Gewinner der Wende auf, weil sie Arbeit haben, sind aber in Wahrheit Ausgebeutete und leben am Existenzminimum. In der zweiten Hälfte des Films kommen die ernsteren Töne zum Tragen. Nur am Rande wird erwähnt, dass die Mitarbeiterinnen auf keinen Fall aussortierte Waren mitnehmen dürfen, obwohl die noch essbar und gut sind. Dieser Überfluss der Wegwerfgesellschaft steht im krassen Gegensatz z.B. von der Ärmlichkeit von Christians Behausung.
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Regisseur Thomas Stuber verfilmt mit In den Gängen eine Kurzgeschichte des in Halle/Saale geborenen Autors Clemens Meyer. Dieser stammt aus einer aufgeklärten Familie, probierte als Jugendlicher aber viele schädliche Dinge aus und landete im Jugendknast. Materielle Armut mit Hartz IV, Stromsperren und schlecht bezahlten Jobs kennt er aus eigener Erfahrung. Nach seinem Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig stellte sich schriftstellerischer Erfolg ein, und Meyer führt nach der jugendlichen „Orientierungsphase“ ein etwas bürgerlicheres Leben. In den Gängen ist authentisch, hart, zärtlich, niederschmetternd, optimistisch und aufwühlend, unterm Strich auch eine Liebeserklärung an die Randfiguren des kapitalistischen Systems und ihren zwischenzeitlichen Lebensmut. Die Kameraführung von Peter Matjasko sowie die Zusammenstellung der Musikstücke verleihen der Tristesse eine Poesie, die im Gegensatz zur Realität steht. Und die holt am Ende die ProtagonistInnen auch wieder ein.
Mit Kurth, Rogowski und Hüller in den Hauptrollen hat Stuber auch drei ganz große Mimen vor die Kamera bekommen, die den Film gefühlt zu ihrer eigenen Sache gemacht zu haben scheinen. Alle drei sind zu schauspielerischen Großtaten fähig, und Kurth kann das Publikum am Ende richtig fertig machen, so tief geht der Blick ins Elend. Um so kostbarer sind die Momente, in denen Humor durchscheint und die zwischenmenschlichen Beziehungsgefüge mit allem, was unser Menschsein ausmacht. In den Gängen ist eine ausgesprochene Filmperle, die kein internationales, oft für ein Massenpublikum nivelliertes Kino nachahmt, sondern sich aus unserer eigenen Geschichte, unseren Lebensumständen speist, vor allen aber aus dem phänomenalen künstlerischen Potenzial vor und hinter der Kamera. Und auf unsere Künstler und Künstlerinnen müssen wir insgesamt derzeit gut achtgeben.
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Bruno (Peter Kurth) und Christian (Franz Rogowski) düsen durch die Gänge | © ZORRO MEDIEN GmbH
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Helga Fitzner - 13. November 2020 ID 12596
https://www.arte.tv/de/videos/060740-000-A/in-den-gaengen/
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