Unflätige
Worte
als Ventil
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Bewertung:
Die Bewohner der kleinen Küstenstadt Littlehampton waren erschüttert, als im Jahr 1920 anonyme Briefe mit bösartigem Inhalt kursierten, die bewusst unter die Gürtellinie zielten. Das war ein Skandal, der von den Medien im ganzen Königreich aufgegriffen wurde. Auf diesem realen Ereignis beruht das Drehbuch des Autors und Komikers Jonny Sweet, das von der britischen Regisseurin Thea Sharrock mit hochkarätigen Schauspielern besetzt und verfilmt wurde. Kleine schmutzige Briefe ist eine typisch britische schwarze Komödie, in der nach dem Ersten Weltkrieg das Spießertum und die Frömmelei Hochkonjunktur haben. Frauen werden klein gehalten und diskriminiert, und es wird im Film nicht einmal erwähnt, dass zeitgleich in größeren Städten die Suffragetten den Aufstand proben und Frauenrechte einfordern. Einzig die Forderung nach Frauenwahlrecht wird kurz thematisiert und als Unfug abgetan.
Die Ortschaft ist redlich bemüht, alles wieder so einzurichten, wie es vor dem Krieg war, aber die Zeiten haben sich geändert. So versucht Edith Swan (Olivia Colman) gegen ihren autoritären Vater (Timothy Spall) aufzubegehren, der die Mittvierzigerin wie ein kleines Kind behandelt und bestraft, indem sie 200 mal einen Bibelvers abschreiben muss. Die anfängliche Freundschaft zu ihrer neuen Nachbarin Rose Gooding (Jessie Buckley) entwickelt sich nicht so, wie Edith sich das wünschen würde. Rose ist aus Irland emigriert und lebt mit ihren Tochter Nancy (Alisha Weir) und ihrem zweiten Ehemann nun in England. Als Irin ist sie nicht besonders beliebt, und da sie streitbar ist und flucht wie ein Bierkutscher, verprellt sie ihr Umfeld immer wieder. Die biedere Edith bewundert das heimlich, bekommt aber viel zu viel Druck von ihren Eltern und der frömmelnden Gesellschaft, um die Freundschaft offen fortzusetzen.
Als eines Tages anonyme Briefe kursieren, die einen obszönen und verletzenden Inhalt haben, entsteht Aufruhr, denn ausgerechnet die lammfromme Edith gehört zu den Zielscheiben der Beleidigungen. Den Dorfbewohnern ist klar, dass nur die Ausländerin als Täterin in Frage kommt, und auch Edith kommt auf Drängen zu derselben Überzeugung und sagt vor Gericht gegen die einstige Freundin aus. Es spricht allerdings dagegen, dass Rose den Leuten ihre Meinung ins Gesicht sagt und dabei in der Wortwahl alles andere als zimperlich ist. Wozu sie denn angesichts dieser bekannten Tatsache Briefe schreiben soll, fragt sie den Richter. Doch vor Gericht gilt das nicht. Sie muss ohne triftige Beweise für zweieinhalb Monate ins Gefängnis und hat dabei Glück, dass ihr nicht das Sorgerecht für ihr Kind entzogen wird und dass ihr Ehemann Bill (Malachi Kirby) ein guter Stiefvater ist und sich mit der kleinen Nancy gut versteht.
Doch als Rose aus dem Gefängnis entlassen wird, ergießt sich eine Lawine von unflätigen Briefen über den Ort, und Rose ist nun in wirklichen Schwierigkeiten. Sie hat zunächst Hilfe von der Polizistin Gladys Moss (Anjana Vasan), der ersten und einzigen Ordnungshüterin in Littlehampton, die aufs Schlimmste diskriminiert wird. Als sie ihre männlichen Kollegen darauf aufmerksam macht, dass Roses Handschrift nicht mit der in den Briefen übereinstimmt, wird das als Schnickschnack abgetan. Gladys ermittelt daraufhin auf eigene Faust und wird dafür suspendiert. Da Rose nun aber eine mehrjährige Gefängnisstrafe und der Verlust des Sorgerechtes drohen, haben sich Gladys und ein paar andere Frauen zum Ziel gesetzt, den Täter auf frischer Tat zu ertappen, damit sie Roses vermutete Unschuld beweisen können - bevor es zu einer Verurteilung kommt.
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Da ist neben der Regisseurin hinter der Kamera auch auf der Leinwand geballte Frauenpower am Werk. Die komplexeste Rolle kommt Olivia Colman zu, die den Spagat zwischen der Tragik durch die ständigen Erniedrigungen und den Erfordernissen, im Rahmen einer schwarzen Komödie zu agieren, mühelos schafft. Sie versteht die Wechselbäder der Gefühle von Edith in unnachahmlicher Weise darzustellen, denn diese ist zwischen Anerkennung durch christliche Demut und der Faszination für den schmutzigen Inhalt dieser Briefe hin- und hergerissen. - Jessie Buckley ist als Rose ein angemessenes Pendant zu Colman, allerdings ist ihre Rolle etwas weniger komplex. Buckley macht den Zwiespalt von Rose zwischen Wut, deftiger Sprache und schierer Angst vor dem drohenden Freiheits- und Kindesverlust nachvollziehbar und schafft es trotz der teils unsympathischen Rolle, die Zuschauer auf ihre Seite zu ziehen. - Die dritte Frau im Bunde ist umwerfende Anjana Vasan als aufrechte Polizistin, die sich stumm, aber effektiv in der Männerdomäne durchsetzt. Ihr geht es um Gerechtigkeit und nicht um die Bedienung von Vorurteilen.
Im Film wird eifrig aus den gemeinen, sexistischen und obszönen Briefen vorgelesen. Damit läuft Sharrock Gefahr, dass sich der Effekt abnutzt, aber die heimliche Lust, mit der der Inhalt vorgetragen wird, zeigt, dass die Unflätigkeit ein Ventil für die aufgestauten Restriktionen ist. In einer Gesellschaft, in der das Verhalten und auch die Wortwahl vorgegeben werden, hat das etwas Befreiendes, selbst oder gerade, wenn den Frauen sexuelle Ausschweifungen und Abartigkeiten unterstellt werden. Immerhin wird ihnen im Jahr 1920 damit eine Sexualität zugestanden. Das ist eine Libertinage der ganz eigenen Art, denn es wirkt der Autoritätsgläubigkeit, dem Druck durch die Kirche sowie der völligen Anpassung an Vorgaben durch die Obrigkeit in der Nachkriegszeit entgegen. In erster Linie ist der Film aber eine erfrischende Komödie mit britischem Humor und Entertainment vom Feinsten.
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Die einheimische Engländerin Edith Swan (Olivia Colman) beschuldigt die irische Migrantin Rose Gooding (Jessie Buckley), anonym unflätige Briefe zu schreiben © Studiocanal / Parisa Taghizadeh
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Helga Fitzner - 27. März 2024 ID 14673
Weitere Infos siehe auch: https://www.studiocanal.de
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