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Filmkritik

Wahrheit ist

ein dehnbarer

Begriff



Bewertung:    



Das hätte gründlich schief gehen können. La Vérité – Leben und lügen lassen ist der erste internationale Film des japanischen Ausnahmeregisseurs Hirokazu Kore-eda, der für seine japanischen Filme mit leisen Tönen und kleinen Gesten Weltruhm erlangte (s. Shoplifters von 2018 und Unsere kleine Schwester von 2015).

Mit seinen Werken gewinnt er fast regelmäßig Preise beim Filmfestival in Cannes, und deshalb lag Frankreich als Versuchsobjekt wohl nahe. Zudem hat er mit den französischen Filmdiven Catherine Deneuve und Juliette Binoche das Drehbuch gemeinsam entwickelt, und Kore-eda war klug genug, seinem französischen Ensemble möglichst viel Freiheit zu lassen. Kurzum: Wer nun den fernöstlichen Charme seiner japanischen Filme sucht, findet sich zu 100 Prozent in Frankreich wieder. Und doch gibt es Verbindungen, aber dazu später mehr.

*

Die alternde französische Filmdiva Fabienne (Catherine Deneuve) hat ihre Memoiren geschrieben, und so reist ihre in den USA lebende Tochter Lumir (Juliette Binoche) samt Ehemann Hank (Ethan Hawke) und dem Töchterchen Charlotte (Clémentine Grenier) nach Paris. Das Verhältnis zwischen den beiden Frauen ist gespannt, und das verschärft sich noch, als Lumir in der Biografie lesen muss, als was für eine tolle Mutter sich die selbstsüchtige und eitle Fabienne darstellt. Lumirs Ehemann wird zum Statisten degradiert, und auch die Enkeltochter findet kaum Beachtung von ihrer Großmutter und hält sie sogar für eine Hexe. Insgesamt hängt der Haussegen schief, weil Sekretär Luc (Alain Libolt), der sich seit 40 Jahren für Fabienne aufopfert, in dem Buch nicht mal Erwähnung findet und das Haus im Chaos hinter sich zurücklässt.

Lumir ist Drehbuchautorin geworden, denn eine eigene Schauspielkarriere wäre bei der Übermutter zu schwierig gewesen. Da sie vom Fach ist, begleitet sie Fabienne zu deren aktuellen Dreharbeiten in einem Sciencefiction-Film, und während der Diskussionen über die Arbeit kommen sich die beiden Frauen wieder näher. Fabienne raucht wie ein Schlot und trinkt schon am Vormittag, doch Lumir entdeckt hinter der kratzbürstigen Fassade allmählich den empfindsameren Kern ihrer Mutter.

Der Film im Film handelt von einer ähnlichen Mutter-Tochter-Beziehung, und die junge Hauptdarstellerin Manon (Manon Clavel) ähnelt Fabiennes bester Freundin Sarah, die von Fabienne einst ausgebootet wurde und früh verstarb. Wie sehr diese beiden Handlungsstränge einander spiegeln, erschließt sich erst am Schluss, und darin erkennen wir auch den „alten“ Kore-eda wieder, in dessen Geschichten sich in der Regel behutsam Familiengeheimnisse entfalten und gelöst werden. Während das in den japanischen Filmen mit der entsprechenden Zurückhaltung und dem Feinsinn der Japaner vonstatten geht, ist La Vérité lauter, intellektueller, leidenschaftlicher und expliziter: Und deswegen funktioniert der Film auch so gut.

Man merkt der Regie nicht den Nachteil an, dass Kore-eda keine Fremdsprachen spricht und auf einen Dolmetscher angewiesen war. Im Zentrum steht eindeutig Fabienne, und alle haben die Großzügigkeit, Deneuve brillieren zu lassen, die ihre langjährigen Erfahrungen einbringen kann, sich zwischenzeitlich selbstironisch karikiert, aber auch den Preis für den Ruhm durchblicken lässt. Alle Ereignisse im realen Leben werden danach abgesucht, wie man sie in der nächsten Rolle vielleicht verwerten kann. So ist Fabienne viel vom echten Leben verloren gegangen, zu dem sie nur noch bedingten Zugang hat. Auf einer Versöhnungsparty für den abtrünnigen Sekretär Luc wirkt sie fehl am Platz, und ihre „Reue“ wirkt nicht überzeugend. - Gibt es überhaupt eine absolute Wahrheit? Oder ist eine Lüge, die jemanden vor Verletzung schützt, nicht auch ein Akt wahrer Rücksichtnahme?

Bei allen Ecken und Kanten seiner Charaktere behält Kore-eda auch in diesem französischen Film seinen liebenden Blick auf sie bei, ohne dabei unkritisch zu sein. Für alle anderen SchauspielerInnen ist noch etwas Raum zur Entfaltung, um sich neidlos von Catherine Deneuve an die Wand spielen zu lassen. Das gilt vor allem für die grandiose Binoche. Mit diesem französischen Werk lässt sich auch der internationale Erfolg von Kore-edas japanischen Filmen deutlicher entschlüsseln. Deren universelle Menschlichkeit und Warmherzigkeit sind eben eine allgemein menschliche Qualität, weshalb sie auch in veränderter Umgebung gut funktionieren.

La Vérité ist Kino in Reinform. Ein Film über Schauspielerei und das Filmemachen mit hochkarätigen Stars und eine Reflexion über Fakten und Fiktion. Film ist in der Regel Fiktion, kann aber diese „Lüge“ transzendieren und im Idealfall in eine Quintessenz von Wahrheit verwandeln. Catherine Deneuve ist mit allen cineastischen Wassern gewaschen, und nun ist es ein Japaner, der eine Hommage an die 76jährige Diva geschaffen hat, inklusive einer mehr als nur höflichen Verbeugung vor der französischen Filmkunst.



Ein kleines Schaukastentheater löst bei Fabienne (Catherine Deneuve) und Lumir (Juliette Binoche) Erinnerungen aus | © Prokino

Helga Fitzner - 5. März 2020
ID 12057
Weitere Infos siehe auch: http://www.la-verite-derfilm.de/#/


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