Unhaltbar,
ausgepowert
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Bewertung:
Vorab: Das Beste an dem Film ist Albrecht Schuch! Allein die dunklen Augen von ihm, ja und wie sie fast zweieinhalb Stunden lang, wann immer sie von Kameramann Johann Feindt in sein Schwarz-Weiß-Visier genommen werden, groß und wach und irritierend schön auf uns und auf die weite, weite Welt vor ihm herüberblicken, macht "es" zum Ereignis. Schuch verkörpert Brasch als Unhaltbaren und - am Ende dieser scheinbar ewig jugendlichen Renitenz - vollkommen Ausgepowerten. "Es" tut schon weh, dieser so heillosen Metamorphose eines der vielleicht grandiosesten Genies, die dieses Nachkriegsdeutschland aufzubieten hatte, irgendwie fast teilhaftig zu sein; die Filmbiografie Lieber Thomas vermag "es" jedenfalls durch ihre beispiellose Suggestionskraft auf uns Zusehende/ Zuhörende spielerisch zu leisten.
Laut dem Filmabspann wäre der Dichter und Filmemacher Thomas Brasch (1945-2001), der nun schon 20 Jahre tot ist, mit einem Loch im Herzen gestorben, und in seinem Nachlass wären sage und schreibe 16.000 Seiten auffindbar gewesen, welche auf die eigentlich von ihm geplante Dimension seines Romans über den Mädchenmörder Karl Brunke, rein numerisch, schließen ließen - der Suhrkamp Verlag brachte Mädchenmörder Brunke, noch zu Braschs Lebzeiten im März 1999, als eine 80-seitige und in Leinen gebundene Ausgabe heraus; das nur so zum Vergleich.
"Martha Haars hatte einen Verlobten in Russland, der ihr in einem Brief mitteilte, dass sein Vater einer Eheschließung nicht zustimmen würde. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an Karl Brunke, ihr eine Überdosis Morphium zu beschaffen. Als das nicht gelang, bat sie ihn, sie zu erschießen. Zur gleichen Zeit teilte Brunke der jüngeren Schwester Alma seine eigene Verzweiflung mit, überall abgelehnt und nicht als Schriftsteller anerkannt zu werden. Alma bot daraufhin an, dass sich alle drei umbringen sollten, sie sei als Mitbetroffene dabei. Martha gab Karl Brunke 40 Mark, um eine Pistole zu kaufen.
Mitte Oktober 1905 sollte der letzte Abend der drei sein. Sie gingen zusammen aus, sahen sich eine Vorstellung im Varieté an, tranken Wein und waren so guter Dinge, dass sie das Vorhaben abbliesen und sich für den 17. Oktober 1905 verabredeten, um nun wirklich aus dem Leben zu scheiden. Die beiden jungen Frauen kleideten sich im Haus ihrer Eltern um, zogen weiße Seidenblusen und schwarze Röcke an, schrieben Abschiedsbriefe und legten den Brief des russischen Geliebten bei. Brunke schickte seine Mutter, mit der er zusammenlebte, ins Theater. Dann kamen Martha und Alma Haars in seine Wohnung in der Monumentstraße 1 in Braunschweig. Sie bestanden darauf, dass Karl einige Probeschüsse abgab und das Bett machte, um jeglichen Verdacht auf ein Sexualverbrechen abzuwenden. Die Frauen zogen ihre Blusen aus und nahmen auf zwei Sesseln gegenüber Karl Brunke Platz. Zuerst schoss er mit dem amerikanischen Revolver aus nächster Nähe in Marthas Herz; sie starb sofort. Alma legte die Schwester aufs Bett, gab ihr einen Abschiedskuss, zeigte auf die Stelle ihres eigenen Herzens und forderte Brunke zum Schuss auf. Brunke schoss zweimal, auch Alma starb sofort.
Karl Brunke war so entsetzt über das Verbrechen und das viele Blut, dass er das Haus verließ und die ganze Nacht in der Stadt herumirrte. Am nächsten Morgen stellte er sich der Polizei."
(Quelle: Wikipedia)
Diese Szene [s.o.] transferieren Drehbuchautor Thomas Wendrich und Filmregisseur Andreas Kleinert in die Gegenwart und lassen sie von Emma Bading / Paula Hans nachspielen; Brasch agiert dabei als Brunke, und an dieser - wie an weiteren diversen Tagtraumszenen dieses Films - wird deutlich, welche Nahwirkungen das von Brasch Erdachte und Geschriebene bzw. noch zu Schreibende auf sein real vollzog'nes Jetzt gehabt haben könnten; wir erfahren freilich auch, dass er seit seiner 1976er Ausreise nach Westdeutschland kokainabhängig, um nicht gar zu sagen -süchtig wurde und die tagtraumhaften Einblendungen dieses Films auch dahingehend dechiffrierbar sind.
Sieben Kapitel weist der lineare Filmfluss auf, von "Was ich nicht habe, will ich nicht verlieren, aber" ab dem Jahre 1966/67, wo Brasch an der Hochschule für Film und Fernsehen in Babelsberg Dramaturgie studierte - bis "Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin" im November 2001, wo der völlig ausgepowerte Brasch (wortlos verkörpert und gestikuliert von Peter Kremer!) seine Reise zu sich selbst beschließt: wo er im schwarzen Tatra seines Vaters Horst Brasch (1922-1989), des späteren stellvertretenden Ministers für Kultur der DDR, zu einem der (heute nur noch als Rundflug-Vehikel buchbaren) Rosinenbomber fährt, welcher am Anfang des Filmes explodiert, und mit dem Brasch am Ende wie ein Engel über Berlin fliegt und aus ihm winkt und lächelt und... Standfoto - - und Film aus.
Und immer wieder ist es - neben den Dutzenden von Frauen, mit denen er Liebesbeziehungen hat - der Vater (aufsehenerregend gespielt von Jörg Schüttauf!), der ihn und seiner verletzten und verletztlichen Seele zusetzt, mit dem er letzten Endes nie fertig wird. Klassischer Vater-Sohn-Konflikt.
Womöglich die zentralste Frau-Figur in Braschs Leben, natürlich: Freundin Katharina Thalbach (sensationell: Jella Haase!!).
Auch Joel Basman (als Braschs jüngerer Bruder Klaus) oder Anja Schneider (als Braschs jüdische Mutter) ragen aus dem Cast des Films heraus.
Ein Rausch! ein Fest an Sinnlichkeit!!
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Albrecht Schuch in Lieber Thomas | (C) Zeitsprung Pictures / Wild Bunch Germany (Foto: Peter Hartwig)
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Andre Sokolowski - 11. November 2021 ID 13288
Weitere Infos siehe auch: https://www.wildbunch-germany.de/movie/lieber-thomas
https://www.andre-sokolowski.de
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