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Filmkritik

Der Geist

der Liebe



Bewertung:    



Eigentlich wollte sie diese Reise gar nicht antreten, doch sie hatte „Pech“. Als sie mit dreistündiger Verspätung am Flughafen eintrudelt, ist das Flugzeug noch da, und so findet sie sich elf Stunden später im japanischen Osaka wieder. Das dies die Exkursion ihres Lebens sein wird, merkt sie erst peu à peu. Madame Sidonie in Japan ist ein Film der französischen Regisseurin Élise Girard, die auch Co-Autorin des Drehbuches ist, in das sie eigene Erfahrungen eingeflochten hat. In diesem (nach eigenen Angaben) zutiefst französischen Film geht es um Verlust, Trauer und deren Bewältigung, und da einer der Protagonisten ein Geist ist, hat sie die Handlung nach Japan verlegt, wo der Umgang mit verstorbenen Ahnen und der Geisterwelt einen größeren Stellenwert als in der westlichen einnimmt.

Madame Sidonie - gespielt von Isabelle Huppert (Mein fabelhaftes Verbrechen, 2023) - ist eine Schriftstellerin, die nach dem Tod ihres Mannes Antoine - gespielt von August Diehl (Verborgenes Leben, 2019) - seit Jahren nicht mehr schreibt. Ihr japanischer Verleger Kenzo (Tsuyoshi Ihara) hat aber ihr erstes Buch neu verlegt und sie zu einer Lesereise eingeladen. Er holt sie persönlich vom Flughafen ab und weicht tagsüber nicht mehr von ihrer Seite. Sidonie fühlt sich seltsam vertraut und doch sehr fremd in diesem doch sehr andersartigen Kulturkreis, und sie ist vom Unfalltod ihres Mannes immer noch traumatisiert. Auch Kenzo hat sein Päckchen zu tragen, und so sind die Dialoge zwischen beiden anfangs herrlich steif und spröde.

Kenzo bemerkt, dass Sidonie in den Pressekonferenzen und bei den Buchvorstellungen über ihre Gefühle spricht. „Das machen wir in Japan nicht“, meint er. Eines Tages redet er mit Sidonie über seine Trauer und seine Emotionen, aber das wäre nur unter vier Augen und nicht öffentlich, betont er. Das Erstlingswerk von Sidonie ist in Japan relativ erfolgreich, weil sie darin den Tod ihrer Eltern verarbeitet, die bei einem Unfall ums Leben kamen, bei dem sie als einzige überlebt hatte. Darüber wurde sie einst von Antoine hinweggetröstet, mit dem sie eine innige Ehe führte, dessen Tod und ihr erneutes Überleben bei einem Autocrash sie nicht verwinden kann.

Neben Erfahrungen mit persönlicher Trauer und dem Überleben leiden die Japaner unter drei kollektiven Ereignissen, die noch nicht überwunden sind. Die Atombombenabwürfe über Nagasaki und Hiroshima 1945, das Erdbeben von Kobe 1995 und die Atomkatastrophe in Fukushima 2011 mit ihren schweren Folgen haben sich in das kollektive Bewusstsein eingegraben.

Eines Tages gerät Sidonie in Panik, weil sie ihren verstorbenen Mann sieht. Der zeigt sich ihr immer öfter, und irgendwann siegt die Neugier, und sie spricht mit ihm. Als sie ihn umarmen will, greift sie durch ihn hindurch, denn er ist ein Geist, aber ein wohlwollender und sehr liebender, der seine Frau dazu bringen will ihn loszulassen, damit er ins Totenreich einkehren kann. Als sie Kenzo von der Erscheinung erzählt, zuckt dieser mit keiner Wimper: „Die Geister helfen uns leben“, erklärt er ihr irgendwann. Der Umgang zwischen Sidonie und Kenzo wird immer vertrauter, und während Sidonie am Anfang schwarze Hosenanzüge trug, trägt sie später einen Rock und buntere Kleidung. Ihre Traumatisierung löst sich allmählich, und nun ist wieder Raum Freude zu empfinden und die umwerfenden Landschaften und Sehenswürdigkeiten zu genießen, zu denen Kenzo sie führt, wie ein Besuch in der Kaiserstadt Nara auf der Insel Honshū, die bekannt ist für die zahmen Sika-Hirsche, die frei herumlaufen, aber an Menschen gewöhnt sind. Dort befinden sich der Schrein Kasuga-Taisha und das Tempelgelände von Tōdai-ji mit riesigen Buddha-Statuen. Auch die Insel Naoshima mit ihrem Museum ist eine atemberaubende Kulisse.

Regisseurin Girard lässt Spezialeffekte erzeugen, die der Verfremdung dienen. Wenn Sidonie und Kenzo im Taxi fahren, wird durch die Autoscheiben ein vorgefertigter Film gezeigt und kein realistischer Hintergrund. In ihrem Japan sind die Städte und Sehenswürdigkeiten nahezu menschenleer. Schon am Flughafen stand Sidonie alleine vorm Zoll, in den Hotels scheint es kaum andere Gäste zu geben, in den Bahnen sind Kenzo und Sidonie praktisch allein. Das entspricht ihrer Wahrnehmung, denn zu Anfang sind sie auf ihre Trauer fokussiert, und gegen Ende konzentrieren sie sich aufeinander. Die Außenwelt, die in der Realität überbevölkert ist, spielt vom inneren Erleben her keine Rolle für sie. Auch die Kirschblüten scheinen nur für sie zu blühen, obwohl der Hanami in Japan ein Massenereignis ist.

Girard hat ohne Pathos oder Melodram eine traurige Geschichte so erzählt, dass sie humorvoll und stellenweise komödiantisch wirkt vor allem, wenn kulturelle Unterschiede aufeinanderprallen. Tsuyoshi Ihara ist Japaner mit koreanischen Wurzeln und sehr beliebt als Schauspieler, Sänger und Model. Er ist in die Jahre gekommen, man kann ihn aber altersmäßig nicht einschätzen. Das gilt auch für den großartigen August Diehl, einen unserer feinsten deutschen Mimen. Seine Mimik und Darstellung sind einfach ein Riesenspaß, wenn er Sidonie z.B. ihre Mondkekse weg isst. Geister können nicht essen, glaubt sie und greift durch ihn durch. Er schon, meint er genüsslich. Dabei ist er recht melancholisch und müde, weil er doch endlich seinen Weg ins Totenreich vollenden will. Isabelle Huppert ist einzigartig. Die zierliche Person hat von ihrer Präsenz nichts eingebüßt, dabei ist sie mittlerweile 71 Jahre alt. Das sieht man ihr beim besten Willen nicht an.

Madame Sidonie in Japan greift die ernsten Sujets Verlust, Tod,, Überleben und Trauerbewältigung auf, ohne auf die Tränendrüsen zu drücken. Im Gegenteil sind die Themen durch die Verfremdung und den feinfühligen Humor dadurch sehr annehmbar. Huppert, Ihara und Diehl bilden dabei eine wundervolle Ménage-à-trois mit Geist und Esprit.



Sidonie (Isabelle Huppert) und Kenzo (Tsuyoshi Ihara) verlieben sich ineinander | © Majestic, Celine Bozon

Helga Fitzner - 11. Juli 2024
ID 14833
Weitere Infos siehe auch: https://www.majestic.de/madamesidonie/


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