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Neues deutsches Kino

…und

Gerechtigkeit

für alle?



Bewertung:    



Es gibt sie noch – deutsche Filme, die sich auf ihr wichtiges (gesellschafts-)politisches Anliegen und ihre Hauptfiguren konzentrieren und Authentizität anstreben, ohne dabei zäh, dröge und belehrend zu sein. Produzent und Regisseur Frieder Schlaich, der mit seinem Filmverleih und seinem DVD-Label Filmgalerie 451 eine der besten Anlaufstellen für deutsche Cineasten ist, hat sich mit der letzten TV-Bastion für Filmkultur, der Redaktion „Das kleinen Fernsehspiel“, zusammengetan und mal wieder einen eigenen Spielfilm inszeniert.

Naomis Reise ist fast über die gesamte Dauer ein Gerichtsdrama. Aber anders als in den meisten US-amerikanischen Produktionen arbeiten Schlaich und Drehbuchautorin Claudia Schaefer nicht mit zugespitzten Rededuellen zwischen Anklage und Verteidigung und permanenter Emotionalisierung. Dies wäre angesichts der gänzlich anderen juristischen Strukturen in Deutschland im Vergleich zu den USA – wo allein schon durch die Zusammensetzung der Jurys ein potenzieller Unsicherheitsfaktor über den Ausgang eines Strafverfahrens vorhanden ist – ein abwegiges Vorgehen. Hierzulande geht es vor Gericht nüchterner zu und enger an die Sachverhalte bezogen.

Dies zeigt Schlaich und verstärkt diesen Umstand sogar noch, indem er leibhaftige Richter, Polizeibeamte und Staats- und Rechtsanwälte sich selber spielen lässt. Ein insofern raffinierte Entscheidung, weil dies erstens in deutschen Filmen nur selten so ausführlich wie hier zu sehen ist, und zweitens die Laienschauspieler sehr authentische Texte und Dialoge sprechen dürfen (zu denen sie, vermute ich mal, vieles selbst beitragen konnten). So ist es ihnen möglich, ihre gewohnten "Rollen" zu transportieren – nur eben nicht im Gerichtssaal, sondern im Gerichtssaal, der außerdem noch ein Filmset ist.

Außerdem erlaubt die den meisten Menschen fremde Welt deutscher Judikative, sich noch stärker mit der Hauptfigur Naomi zu identifizieren, für die ein deutscher Gerichtssaal eine so exotische Kulisse ist wie für unsereins das Leben im Armenviertel einer peruanischen Großstadt. Dort lebt Naomi (fast zu schön, um wahr zu sein: Scarlett Jaimes) mit ihren jüngeren Geschwistern und ihrer Mutter (Liliana Trujillo), die, wie so viele ältere Frauen in lateinamerikanischen Ländern, die Haushalte der High Society in Schuss halten. Die kaltherzige, snobistische Frau, die in der gläsernen Villa lebt, die Naomis Mutter putzt und schrubbt, erlaubt dieser nicht einmal sich wegen eines wichtigen Termins frei zu nehmen und ins ferne Deutschland zu reisen. Denn die älteste Tochter, Naomis Schwester, ist tot – mutmaßlich ermordet von ihrem deutschen Ehemann.

Schlaich und Drehbuchautorin Schaefer lassen diese Vorgeschichte wie so vieles, was durchaus Potenzial für dramaturgische Spitzen und Wellen gehabt hätte, mutig weg und konzentrieren sich stattdessen ganz auf das Gerichtsverfahren, was Naomi und ihrer Mutter als Nebenkläger der Anklage besuchen. Was zu diesem Strafverfahren führte, was für eine Persönlichkeit das Opfer war und der Täter ist, und was sich mit den Zeugen und Sachverständigen gleichsam noch am Rande abspielt, wird eben nur am Rande behandelt. Den Rest muss man sich denken – ebenso wie Naomi, die auf das angewiesen ist, was ihr Freunde der getöteten Schwester und der Gerichtsdolmetscher erzählen. Eines merkt Naomi mit zunehmenden Entsetzen aber deutlich: Ein paradiesisches Leben an der Seite eines liebenden Ehemannes führte ihre Schwester nicht.

Im Gegenteil: Der missgünstige, egoistische Mann und mutmaßlicher Mörder suchte schon immer unkompliziertes (sexuelles) Vergnügen mit exotischen Frauen, war sich ansonsten mit Verpflichtungen ihnen gegenüber zu fein. Entsprechend schlecht stand es um die Ehe, aus der ein Junge hervorging, der den peruanischen Angehörigen, die er nie gesehen hat, vorenthalten wird. Der Film gewinnt seine emotionale Stärke aus dem starken Kontrast, die zwischen Fachjargon und professionell-steifem Verhalten der Gerichtsakteure auf der einen und der Sprach- und Hilflosigkeit der Hinterbliebenen des Opfers auf der anderen Seite existiert, die nurmehr Nebenkläger und -figuren in einem juristischen Ränkespiel sind.

An einem konkreten Fall illustrieren die Filmschaffenden diese schwache Position von Angehörigen von Opfern rechtsmotivierter, rassistischer Gewalt gegenüber der – soweit leider realistisch – auch der Staatsanwalt in diesem Verfahren nahezu blind ist. Leider, und das schränkt die beabsichtigte Wirkung des Films für mich ein, wird dieser Staatsanwalt als eine solche nachgiebige Pfeife gezeichnet, die ihren Beruf erkennbar verfehlt hat, dass es schwerfällt, die Ungerechtigkeit, von der der Film erzählt, zu glauben (zu unwahrscheinlich nicht in der Realität, sondern im Filmkontext!).

Denn natürlich gibt es im wahren Leben – siehe NSU-Mordserie und Verharmlosung der Chemnitzer Krawalle – jede Menge rechter Straftaten, die zu schwach verfolgt und zu gering geahndet werden. In dem im Film behandelten Fall sind die Belege für eine Mordtat allerdings so erdrückend und belastend, dass die die Schuldfrage verwässernden juristischen Spitzfindigkeiten (zumindest mir) als nicht glaubhaft, sondern nahezu polemisch erscheinen. Ich fühlte mich ein klein wenig an den (für mich ebenfalls kontraproduktiven) Empörungsüberschwang in Fatih Akins Aus dem Nichts erinnert, der allerdings viel hemmungsloser emotionalisiert hat als dieser Film.

Gerade die schon genannte Zurückhaltung und der authentische Anspruch von Naomis Reise haben bei mir den stärksten Eindruck hinterlassen, und dass der Film eine Ungerechtigkeit konstruiert, um sie gen Himmel zu schreien, ist nicht nur ein nobles Anliegen: Das mindert allenfalls ein bisschen die Glaubwürdigkeit (der Filmhandlung), mindert aber den Unterhaltungswert nicht! Dazu funktioniert das Zusammenspiel von Laien und Schauspielerinnen viel zu gut, und insbesondere Scarlett Jaimes ist ein Kinogesicht, das man nicht vergessen kann.



Naomis Reise | (C) Filmgalerie 451

Max-Peter Heyne - 13. September 2018
ID 10912
Weitere Infos siehe auch: https://www.filmgalerie451.de/filme/naomis-reise/


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