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UNSERE NEUE GESCHICHTE (Teil 53)

Vertraue

dem Prozess



Bewertung:    



Der Theaterabend war ein voller Erfolg. Das Ensemble hat das Stück selbst entwickelt, geschrieben, geprobt und aufgeführt. Sie haben gespielt, gesungen, getanzt und nehmen nun ihren verdienten Applaus entgegen. Doch etwas ist ganz besonders an dieser Theatergruppe: Die meisten von ihnen haben Kapitalverbrechen begangen und zusammen genommen mehrere hundert Jahre Haft hinter sich.

Sing Sing ist ein berühmtes Hochsicherheitsgefängnis in der Nähe von New York, in dem die inhaftierten Männer oft jahrzehntelange Haftstrafen absitzen müssen, sowie der Titel eines Spielfilms des US-amerikanischen Regisseurs Greg Kwedar. Er beschreibt das seit 1996 real existierende Projekt RTA (= Rehabilitation Through Art – dt.: Rehabilitation durch Kunst). Wegen des Erfolgs ist diese Rehabilitationsmaßnahme heute verbreitet und hat thematisch längst Einzug in Literatur, Film und Theater gehalten. An dem Film Sing Sing ist allerdings besonders, dass die meisten der Schauspieler jene ehemaligen Häftlinge sind, die die beschriebenem Proben und Aufführungen vor Jahren durchlaufen haben und sich selbst spielen. Für die Dreharbeiten sind sie freiwillig in die Strafanstalt zurückgekehrt.

Brent Buell (Paul Raci) ist der Regisseur, der für das Rehabilitationsprojekt engagiert wurde. Seine Gruppe ist mittlerweile eingespielt und hat schon mehrere Stücke aufgeführt. Der umtriebigste der Insassen ist John „Divine G“ Whitfield (Colman Domingo), der sich als Stückeschreiber und Schriftsteller einen Namen gemacht hat. Er will damit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf seinen Fall lenken, denn er sitzt tatsächlich unschuldig im Gefängnis. Eines Tages kommt Clarence „Divine Eye“ Maclin (als er selbst) dazu, der sich aber anfangs sehr zurückhaltend gibt. Einige der Improvisationsübungen sind ihm zu suspekt. Die Männer sollen die Augen schließen, sich einen vollkommenen Ort vorstellen oder an einen Freund denken und ihre Geschichte und Gefühle dann noch den anderen mitteilen.

Divine Eye ist da noch nicht soweit. Im Haftalltag muss man stark sein, da kann man sich keine Gefühlsduseleien erlauben. Ihm dämmert aber langsam, dass genau diese Rückkehr eines Gewaltverbrechers zu einem empfindenden Wesen den Unterschied ausmacht und der Grund für das Programm ist. Neben der Entwicklung der kreativen Fähigkeiten sind Sozialverhalten und gegenseitiger Respekt gefragt. Als Divine Eye in einem Streit Divine G "Nigger" nennt, sagt dieser nur: "Wir benutzen solche Worte nicht, wir nennen uns 'Geliebte'." Das beschreibt die beiden verschiedenen Welten: die des Überlebens in der Haftanstalt auf der einen Seite und die durch die Theaterarbeit erschaffene andere Wirklichkeit einer harmonischen und kreativen Welt. Divine Eye muss sich das Mantra des Projekts immer wieder anhören: „Trust the process“. Er soll dem Prozess vertrauen, wobei das Wort eine mehrschichtige Bedeutung hat. Es meint die Arbeitsweise, die persönliche Entwicklung und durchaus auch das Vertrauen in eine göttliche Fügung.

Divine Eye und Divine G geraten immer wieder aneinander. Der Neuling kann Divine Gs Führungsrolle nicht akzeptieren, obwohl dieser sie nutzt, um anderen zu helfen. Er macht sich mithilfe der Gefängnisbibliothek schlau, liest dabei auch juristische Texte und hilft einigen Mithäftlingen z.B. bei ihren Anträgen auf Gnadengesuche. Seine eigenen sind bisher immer abgelehnt worden, wodurch er in eine persönliche Krise gerät. Trotzdem unterstützt er Divine Eye, der Hamlets Monolog „Sein oder Nichtsein“ vortragen will. Bei dem neuen Stück wurden alle genannten Vorschläge verwendet, da die aber kunterbunt zusammengewürfelt waren, wurden sie in Form einer Zeitreise dargestellt, die vom alten Ägypten ausgehend viele Stationen macht.

*

Für Regisseur Kwedar, der zusammen mit mehreren Autoren das Drehbuch schrieb, war das ein einzigartiges Erlebnis:


„Immer, wenn wir versuchten, etwas selbst zu erfinden, sind wir gescheitert. Aber sobald wir uns zurücknahmen, ihnen Raum gaben und offen dafür waren, was sie einbrachten, gab es so viele Geschichten und Momente, die so spezifisch und wahrhaftig waren, dass man sie nie hätte schreiben können. Man muss es erleben, so wie sie es getan haben. Sie sind Freunde. Ihr Geplänkel untereinander ist besser als alles, was wir je schreiben können.“


Die Erfahrung und Kompetenz der Schauspieler, die das Projekt durchlaufen haben, führt tatsächlich zu einer einzigartigen Wahrhaftigkeit, weil es aus dem eigenen Erleben gespeist wird. Die Kamera von Pat Scola hält mitunter keine Distanz und geht in die extreme Nahaufnahme. In den Gesichtern der ehemaligen Häftlinge spiegelt sich das, was das Leben in sie eingegraben hat. Das kann man nicht spielen, und diese Bilder gehen unter die Haut. Zum Schluss wird es sehr emotional und bewegend. Colman Domingo ist professioneller Schauspieler und spielt die Rolle des Divine G mit der gleichen Intensität wie die RTA-Absolventen. Der echte Mike Mike ist im Gefängnis einem Aneurysma erlegen und wird von Sean San José gespielt, und ist der einzige, von dessen Vergangenheit wir etwas erfahren. Er gibt seiner Drogensucht die Schuld an seinem verpfuschten Leben. Sean „Dino“ Johnson und Jon-Adrian „JJ“ Velazques und eine Reihe anderer spielen sich selbst.

Hauptdarsteller Colman Domingo wurde für verschiedene Preise als bester Schauspieler nominiert, darunter die noch ausstehende Oscar-Verleihung. Der echte John „Divine G“ Whitfield taucht mit Greg Kwedar, Clint Bentley und Clarence „Divine Eye“ Maclin als Nominierter für das beste adaptierte Drehbuch auf. Clarence Maclin steht als Schauspieler dem Profi Domingo als Protagonist in nichts nach. Maclin und manchmal das ganze Ensemble haben Nominierungen für verschiedene andere Preise erhalten.

Rund 60 Prozent aller entlassenen Häftlinge werden wieder straffällig, bei den Teilnehmern an diesem Programm sind es nur 3 Prozent. Das beweist die Macht der Kunst und dass Kreativität zu unserem Menschsein gehört. Normalerweise möchte man Männern mit solchen Lebensgeschichten nicht allzu nah begegnen, doch diese Künstler haben durch RTA zu sich selbst gefunden, sind aus ihrer emotionalen Erstarrung erwacht und irgendwie zur Menschlichkeit befreit worden. Als Schauspieler haben sie dadurch eine unglaubliche Gefühlstiefe entwickelt. Der Film verzichtet darauf, zu sehr auf den Gefängnisalltag einzugehen, und blendet die begangenen Kapitalverbrechen der Männer aus, sodass trotz der deprimierenden Umgebung die Vision und Hoffnung im Mittelpunkt steht.



John „Divine G“ Whitfield (Colman Domingo), Mike Mike (Sean San José) (im Vordergrund) und der Rest der Gruppe bei den Proben | © 2023 Divine Film LLC

Helga Fitzner - 25. Februar 2025
ID 15167
Weitere Infos siehe auch: https://weltkino.de/


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