Die erschreckende
Normalität
der Armut
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Bewertung:
Die Kinder kennen es nicht anders. Sie haben die Zeit vor der Finanzkrise 2008 nicht erlebt und nehmen den Überlebenskampf ihrer Mütter als Abenteuer wahr. Die sechsjährige Moonee (Brooklynn Kimberley Prince) stromert mit anderen Kindern in der Gegend herum, bettelt vor der Eisbude Leute an, um sich auch ein Eis kaufen zu können, wartet vor dem Burger-Restaurant, dass dort ein paar Waffeln für sie abfallen. Wenn sie beim Verticken von gepanschtem Parfüm mit ihrer Mutter Halley (Bria Vinaite) überstürzt das Weite suchen muss, ist das fast schon ein Spaß.
Die Gegensätze in The Florida Project könnten nicht größer sein. Auf der einen Seite befindet sich der luxuriöse Freizeitpark Disney World, und unweit davon ein Billig-Motel, das sich auch noch ironiefrei „Magic Kingdom“ nennt. Dort sind mittellose Leute wie Halley und Moonee untergebracht. Die Unterkunft kostet 38 Dollar pro Übernachtung und ist unterm Strich nicht billiger als eine feste Bleibe. Aber einige Bewohner vom „Magic Kingdom“ haben irgendwie den Willen, die Fähigkeit oder die Motivation verloren, aus dem Kreislauf der Armut herauszukommen und ihr Leben zu planen. Stattdessen schlagen sie sich von einem Tag zum nächsten durch. Halleys beste Freundin Ashley (Mela Murder) allerdings schuftet im Burger-Restaurant für einen Hungerlohn und die vage Hoffnung auf Beförderung, damit sie für ihren Sohn Scooty (Christopher Rivera) eine Zukunft aufbauen kann. Der Weg ist steinig und von Rückschlägen gekennzeichnet. Als die Kinder etwas sehr Gefährliches anstellen, bekommt Halley gar nicht mit, dass die Kinder dahinter stecken, und um an Geld zu kommen, rutscht sie in die Kleinkriminalität ab. Ashley kündigt ihr deswegen die Freundschaft auf und verbietet Scooty jeden Kontakt zu Halley und seiner liebsten Spielgefährtin Moonee.
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Halley (Bria Vinaite) und ihre Tochter Moonee (B. K. Prince) in ihrer beengten Bleibe | © Prokino Filmverleih
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Der amerikanische Filmemacher Sean Baker ist bekannt dafür, auf sehr intensive Art Randfiguren der Gesellschaft zu porträtieren, zuletzt 2015 in Tangerine, in dem es um Transgender-Prostitution geht. Bei The Florida Project zeichnet er sich für das Drehbuch, die Regie, die Produktion und den Schnitt verantwortlich und hat sich die Lebensumstände der Menschen in solchen Übergangsbleiben genau angeschaut: „Die Auswirkungen der Finanzkrise und der geplatzten Immobilienblase von 2008 sind so nachhaltig, dass Menschen und Familien, die damals in den Abgrund gerissen wurden, seither nicht mehr auf die Beine gekommen sind. Es gibt Kinder, die ein Leben abseits der prekären Umstände, in denen sie groß werden, gar nicht kennen. Obdachlose in Billighotels findet man nicht nur in Florida: Es ist der letzte Zwischenstopp für viele Menschen vor dem Leben auf der Straße.“
Die Besetzung des Films ist einfach grandios, insbesondere Willem Dafoe als Bobby, der Hotelmanager und Mädchen für alles. Der versucht Ordnung zu halten, repariert defekte Geräte, entsorgt wanzenverseuchte Matratzen und hilft den Bewohnern beim Umzug innerhalb des Hotels, denn sie dürfen nur eine begrenzte Zeit dort wohnen und müssen aus- und unter anderer Zimmernummer wieder einchecken. Die Behörden sind nicht sehr hilfreich, und da die etwas unbändige Halley nicht kooperiert, eckt sie immer wieder an. Als der Übernachtungspreis von den Eigentümern um einige Dollar pro Tag erhöht wird, sieht Halley keinen anderen Ausweg als sich auf verbotene Weise Geld zu besorgen. War der Manager Bobby bislang sehr langmütig mit seinen „Gästen“ und sogar so eine Art Vaterersatz für die Kinder, kann er seine schützende Hand nun nicht mehr über Halley und Moonee halten, als sie sich und ihr Kind gefährdet und sich die Behörden einschalten.
Willem Dafoe ist hier in einer seiner besten Rollen zu sehen. Der Langmut und Pragmatismus des Managers scheint ihm auf den Leib geschrieben zu sein. Er gehört zu den wenigen Menschen in Halleys Umfeld, die einer geregelten Tätigkeit nachgehen und eine Art sozialen Status haben. Bobby ist verantwortungsvoll, vertreibt einen alten Mann mit bösen Absichten vom Kinderspielplatz und liegt im (herrlichen) Clinch mit einer älteren Bewohnerin, die sich nicht davon abhalten lässt, sich oben ohne zu sonnen, was im prüden Florida natürlich nicht gestattet ist. In einer sehr gelungenen Szene steht Bobby auf einer Leiter und versucht, die Risse und Unebenheiten des Hauses mit Farbe zu übertünchen, aber darunter sind sie natürlich immer noch vorhanden, was im übertragenen Sinne auch für die Menschen und ihre Situation gilt.
So lässt Baker die Zuschauer zunehmend in diese brüchige Welt eintauchen, meist durch die Augen der Kinder. Moonee und ihre Freunde amüsieren sich, weil eine Frau an der Rezeption einen Aufstand macht und dort nicht einziehen will. Ihr Mann hatte ein Hotel für Disney World gebucht und sich von dem euphemistischen Hotelnamen, das magische Königreich, in die Irre führen lassen. Moonee ist es gewohnt, dass nicht gekocht wird, weil es in dem kleinen Zimmer gar keine Möglichkeit dazu gibt. Sie ernährt sich von Tüten mit Billig-Snacks, und manchmal gibt es Pizza. Moonee kann schon fast so aufsässig sein wie ihre Mutter, wenn die sich angegriffen fühlt, und hat auch schon eine ziemlich große Klappe. Ihre Tage haben kaum eine Struktur, und so lebt sie in den Tag hinein. Mutter und Tochter genießen aber ihr Leben und sind einander sehr zugetan. Da wäre sehr viel Potential, wenn man ihnen unter die Arme greifen würde, aber die Behörden reagieren mit Drohungen, Restriktionen und neuen Schikanen. Es besteht immer die Möglichkeit, dass Moonee ihrer Mutter weggenommen wird. Schon bald lassen sich die Zuschauer von der Übertünchung des Motels und der gezeigten Normalität der Armut nicht mehr täuschen. Die Lebendigkeit und der unverwüstliche Lebensmut der Kinder ist schmerzhaft angesichts der Chancenlosigkeit und des Wissens der Zuschauer, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann die Kinder mitbekommen, wie übel ihnen von einer oft gleichgültigen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft mitgespielt wird. Baker macht das ohne direkte Anklage, sondern nur über die verheerenden Auswirkungen, die das auf die zukünftige Generation hat. Gute Kritiken, zahlreiche Nominierungen und Preise zeigen, dass Baker mit seinem Film einen Nerv getroffen hat.
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Helga Fitzner - 16. März 2018 ID 10584
Weitere Infos siehe auch: http://the-florida-project.de
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