UNSERE NEUE GESCHICHTE (Teil 45)
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Stärke und
Entschlossen-
heit
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Bewertung:
Die Busse mit den syrischen Flüchtlingen trafen ohne Vorankündigung in dem kleinen Ort im Norden von England ein, und viele der Bewohner waren empört. Der Norden ist seit dem Untergang der Industrien in den 1980er Jahren die vergessene Region des Landes und wurde dem Verfall überlassen. Nun bekamen Fremde mehr Unterstützung als die eigenen Leute, und der Wert von deren Immobilien wurde ruiniert. Eine Firma aus Zypern hatte zu Spottpreisen übers Internet leerstehende Häuser gekauft, ohne sie sich anzusehen und deren Zustand zu ermitteln. Darin wurden die Geflüchteten in direkter Nachbarschaft zu den Einheimischen untergebracht, was zu Konflikten führte.
Dies trug sich im Jahr 2016 in der Realität zu, und der britische Regie-Altmeister Ken Loach fuhr mit seinem Lieblingsdrehbuchautor Paul Laverty durch die Lande, um Material für einen neuen Spielfilm zu sammeln. Eigentlich hatte Loach sich schon vor Jahren in den Ruhestand verabschieden wollen, doch die Dringlichkeit der Lage der Menschen in Not rief ihn wieder auf den Plan. In Ich, Daniel Blake schilderte er, wie ein herzkranker älterer Arbeitsloser von den Behörden zu Tode schikaniert wird, und in Sorry We Missed You ging es um einen Paketfahrer, der die unmenschliche und extreme Härte des Raubtier-Kapitalismus zu spüren bekommt und daran allmählich zugrunde geht. Beide Filme spielen in Nordengland, und der dritte im Bunde kommt nun unter dem Titel The Old Oak in die Kinos, als letzter Teil einer Trilogie. Es wird auch der letzte Film von Ken Loach sein, denn der 87jährige hat schon angekündigt, dass er sich den Anstrengungen einer weiteren Regiearbeit nicht mehr gewachsen fühlt.
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„Jetzt sollen wir alles mit denen teilen, dabei kennen wir die nicht mal“, schimpfen einige Leute im Old Oak, dem letzten noch geöffneten Pub des heruntergekommenen Ortes. Der Wirt TJ Ballantyne (Dave Turner) sitzt zwischen zwei Stühlen, denn er mag die fremdenfeindlichen Reaktionen überhaupt nicht, ist aber für seine eigene Existenz auf die wenigen verbliebenen Stammgäste angewiesen, ohne die er auf der Straße landen würde.
TJ freundet sich mit der jungen Syrerin Yara (Ebla Mari) an, die im Flüchtlingscamp die englische Sprache gelernt hat und sich als Übersetzerin und Vermittlerin für ihre Leute einsetzt. Sie ist eine begabte Fotografin, was ihren Blick für Menschen und Situationen schärft. Zusammen mit der Sozialarbeiterin Laura (Claire Rodgerson) kümmern sich Yara und TJ um die Flüchtlinge. Das gefällt seiner Stammkundschaft wenig, vor allem seinem alten Freund Charlie (Trevor Fox) nicht, der sich von TJ verraten fühlt. Die älteren Bewohner haben die verzweifelten Arbeiterkämpfe in den 1980er Jahren miterlebt, in denen Zusammenhalt und Gemeinschaft unabdingbar waren, doch im Lauf der Jahrzehnte nach dem Niedergang der Industrien ist die alte Solidarität verkümmert.
Das ändern TJ, Yara und Laura, indem sie ein gemeinsames Essen mit Einheimischen und Syrern organisieren, damit sie sich kennenlernen können. Wenn man einander etwas kennt, weicht auch die Angst vor dem Fremden. Das funktioniert hervorragend, und als Yara noch einen Abend veranstaltet, an dem sie Fotos zeigt, die sie von den Menschen und ihrer Umgebung gemacht hat, sitzen die alten und neuen Bewohner friedlich beisammen. Da die Syrer auch von Jugendlichen angegriffen werden, sammelt das Team weiterhin Spenden, um eine regelmäßige Mittagsküche für die Jugend einzurichten, denn einige Familien müssen am Essen sparen. Die hohe Arbeitslosigkeit und anhaltende Perspektivlosigkeit gehören seit Generationen zum Alltag.
Es kommt aber auch zu Rückschlägen, einem Sabotageakt und einem Unglück, sodass das Projekt der Zusammenführung gescheitert scheint, weil einige der Fremdenhasser keine Ruhe geben. Als sie Yara auffordern, dahin zurückgehen, wo sie hergekommen ist, antwortet diese, dass da nichts mehr ist, wohin sie zurückkehren könne.
Trotzdem waren am Ende die Bemühungen nicht vergebens. Beide Gruppen erkennen die Probleme und Traumatisierungen der jeweils anderen und merken, dass sie viele Gemeinsamkeiten haben. Es lohnt sich also doch, es miteinander zu versuchen. Am Schluss kommt bei Ken Loach der alte Sozialromantiker noch einmal durch, und der Film schließt mit einer hoffnungsvollen Note. Das ist schön, denn es ist das letzte filmische Wort von Ken Loach, der auf 56 Jahre als sozialkritischer Filmemacher zurückblicken kann und mit seinen Werken den Benachteiligten eine Stimme verliehen hat:
„Das Dorf, von dem wir erzählen, ist Teil einer größeren Gemeinschaft. Es blickt auf eine lange Geschichte des Widerstandes gegen Ausbeutung zurück. Früher musste man sich mit den Minenbesitzern herumschlagen und dann folgte in jüngerer Zeit die erzwungene Schließung der Gruben in der Ära Margaret Thatchers. Diese Auseinandersetzungen, dieser Arbeits- und Überlebenskampf, sorgten für ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl und auch die Wertschätzung internationaler Unterstützung. Die Schwächung der Gewerkschaften ließ die Einzelnen in ihrem Kampf allein zurück. Wenn es keine starke Gemeinschaft mehr gibt, wenn das Unternehmertum angebetet wird und nicht das Miteinander, dann verändert sich das Bewusstsein und alte Wertvorstellungen verlieren ihre Kraft... Und natürlich gibt es noch andere Regionen, in denen Härte, andauernder Kampf und große Solidarität Teil der DNA sind. Und nicht zuletzt natürlich unsere menschliche Stärke und Entschlossenheit, die uns eines Tages hoffentlich so weit bringt, dass wir wirklich zusammenfinden und es nicht mehr nötig ist, zu kämpfen. Wir haben lange genug gewartet.“
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TJ Ballantyne (Dave Turner) und Yara (Ebla Mari) kämpfen für eine gemeinsame Sache © Wild Bunch Germany
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Helga Fitzner - 23. November 2023 ID 14490
Weitere Infos siehe auch: https://www.wildbunch-germany.de/movie/the-old-oak
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