Jenseits
großer Worte
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Bewertung:
The Quiet Girl ist, wie der Titel schon andeutet, ein stiller Film, der auf der BERLINALE 2022 trotzdem so auffiel, dass er mit dem Hauptpreis in der Sektion "Generation" gewürdigt wurde. Für die Oscar-Verleihung 2023 bekam er immerhin eine Nominierung als bester ausländischer Film und war damit der erste Film in irisch-gälischer Sprache, dem diese Ehrung zuteil wurde. Der irische Regisseur Colm Bairéad hat in seinem Spielfilmdebüt den Roman Das dritte Licht von Claire Keegan verfilmt, der von der neunjährigen Cáit (Catherine Clinch) handelt, die ihre Sommerferien im Jahr 1981 bei entfernten Verwandten verbringt und dort erstmals Fürsorge erfährt.
Cáits Mutter ist hochschwanger und überfordert. Sie hat mehrere Kinder, und der Hof wirft nicht genug Profit ab. Das liegt vor allem an ihrem Mann (Michael Patric), der schon mal eine ganze Kuh beim Spielen verloren hat und insgesamt gemein und faul ist. Die Familie ist daher verarmt, der Hof verwahrlost, und insbesondere Cáit wird vernachlässigt, die als Problemkind gilt, weil sie sich allein herumtreibt und schlecht in der Schule ist. Da bietet die entfernte Cousine Eibhlín (Carrie Crowley) an, die Kleine über die Ferien zu sich zu nehmen, was gerne angenommen wird. Dort kommt sie zwar mit ihrem Schulranzen an, der Vater vergisst aber ihren Koffer auszuladen. So trifft das Mädchen einzig im Sommerkleidchen und ungewaschen bei den ihr noch fremden Menschen ein.
Doch Eibhlín ist eine warmherzige und geduldige Person, und die beiden verstehen sich sehr gut. Sie macht auch kein Aufsehen, als sie merkt, dass Cáit Bettnässerin ist, was sich durch die Fürsorglichkeit sehr schnell wieder legt. Cáit lernt schnell sich selbst sauber zu halten, in der Küche zu helfen und sich auf dem wohl organisierten Hof zurechtzufinden. Es ist fast schmerzhaft, wie wenig Aufmerksamkeit und Güte genügen, um das verstörte Mädchen aufblühen zu lassen. War der Herr des Hauses Seán (Andrew Bennett) zu Anfang wenig begeistert von der neuen Hausgenossin, so gewinnt er sie allmählich lieb. Das zeigt sich schweigend darin, dass sie nach einiger Zeit mit ihm in den Stall darf, wo sie sich geschickt anstellt. Eines Tages lädt er seine Frau und Cáit in den Wagen und fährt sie in die Stadt, um ihr eigene Kleidung zu kaufen.
Bislang trug sie Hemden und Hosen, die ihr etwas zu groß waren. Mit ihren neun Jahren kann sie sich noch nicht zusammenreimen, woher die kommen und warum ihr Zimmer z.B. eine Kindertapete mit Lokomotiven hat, es aber kein weiteres Kind im Hause gibt. Für ihre temporären Pflegeeltern ist ihre Anwesenheit durchaus heilsam, doch bald wird Cáits Geschwisterchen geboren werden, und auch die Ferien neigen sich dem Ende zu...
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In dem Film geht es weniger um eine Handlung oder ein intellektuelles Verständnis, sondern um die Gefühlslage der Hauptpersonen. Cáit steht im Mittelpunkt, und die junge Catherine Clinch schafft es, den Film zu tragen mit hervorragenden erwachsenen Schauspielern und Schauspielerinnen an ihrer Seite, die einen zunehmenden Einblick in die seelischen Verletzungen, den Schmerz und die Trauer des anderen entwickeln. Das Damoklesschwert, das über ihnen schwebt, ist jederzeit spürbar, denn die wunderbaren Tage auf dem gepflegten Hof in der herrlichen Landschaft und Atmosphäre sind gezählt.
Vieles bleibt vage, aber das ist ja genau die Macht des Kinos eher zu beobachten, als zu erklären, und eher Stimmungen zu evozieren und den Zuschauer ihre eigene Art der Rezeption zu erlauben. Jenseits vieler Worte entwickelt sich eine tiefe Menschlichkeit und Bindung. Man fragt sich zum Schluss, wie sich diese wenigen Wochen auf Cáits weiteres Leben auswirken könnten. Sie ist selbständiger geworden, hat die Erfahrung von Zuwendung gemacht, Seán hat mit ihr Lesen geübt, was sie bislang nicht richtig beherrscht hatte, und die Kleine hat dadurch vielleicht ein besseres Selbstwertgefühl entwickeln können. Aber wie nachhaltig kann das sein, wenn sie der guten Zeit nachtrauert und wenn ihr leiblicher Vater seinen Kindern nicht einmal das Essen gönnt und sie ständig klein macht? Inwieweit die prekäre Lage der Familie durch die damalige Einführung des Thatcherismus entstanden sein könnte, wird, wie so vieles, nicht erwähnt. Doch unabhängig vom Zeitkolorit ist die Erzählung eine universelle und zeitlose. Colm Bairéad erklärt:
„Diese Geschichte berührte mich auf so vielen Ebenen. Sie spricht Dinge an, die auch in meinen bisherigen Arbeiten immer wieder vorkamen – die komplexen Bindungen innerhalb einer Familie, die Frage des emotionalen und psychologischen Wachstums und, ganz entscheidend, das Phänomen der Trauer und ihre Fähigkeit, uns zu formen... Ich mag den Gedanken, dass etwas sehr Tiefgründiges im Kleinen gefunden werden kann, in einer Art erzählerischer Demut. Mehr als alles andere war es jedoch der emotionale Unterton der Geschichte, der mich von ihrem Potenzial als Film überzeugte. Seine Zurückhaltung und die schließlich kathartische Auflösung, zogen mich in ihren Bann. Ich konnte mir vorstellen, dass diese Geschichte beim Publikum dieselbe Reaktion hervorrufen könnte.“
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Eibhlín (Carrie Crowley) hat ihre kleine Cousine Cáit (Catherine Clinch) über die Ferien zu sich geholt, ihr Mann Seán (Andrew Bennett) ist zu Anfang nicht so begeistert © Neue Visionen Filmverleih
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Helga Fitzner - 15. November 2023 ID 14473
Weitere Infos siehe auch: https://www.neuevisionen.de/
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