Ein Genre
für sich
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Bewertung:
Der schwedische Regisseur und Drehbuchautor Roy Andersson zählt mit 77 Jahren zu den Veteranen des skandinavischen Kinos, das es sich öfter mal erlaubt, sehr skurrile Typen und sehr entschleunigte Filme zu zeigen. Mit dem Titel Über die Unendlichkeit meint Andersson kein Universum, sondern „die Unendlichkeit von Zeichen der Existenz, des Menschseins“. Als Meister der absurden und mitunter surrealen Komödie hat er wieder wunderbare Tableaus geschaffen, mit denen er (nicht nur) die schwedische Kultur karikiert und harsche, mitunter urkomische Sozialkritik übt. Der Film besteht aus einer Aneinanderreihung verschiedener kurzer Sequenzen, die thematisch nicht miteinander verbunden sind. Allerdings hat Andersson erstmals eine Erzählerin (Jessica Lothander) aus dem Off eingesetzt, die an Scheherazade aus 1001 Nacht angelehnt ist. Es gibt noch einige wenige wiederkehrende Personen wie ein unglücklicher Geistlicher (Martin Serner), der seinen Glauben an Gott verloren hat, in seltsame Situationen gerät und merkwürdige Visionen hat. Am auffälligsten sind wiederkehrende Aufnahmen der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Stadt Köln, über die am Anfang ein kleiner Punkt im Hintergrund zu erkennen ist, der immer näher kommt und sich als das schwebende Liebespaar (Tatjana Delaunay und Anders Hellström) auf dem Plakat entpuppt. Dieses Paar hat eine transzendierende Funktion, denn inmitten der düster-komischen Szenerien verheißen die beiden die Unzerstörbarkeit der menschlichen Seele und das Vertrauen auf die Liebe.
Mit seiner Trilogie über das menschliche Wesen - Songs from the second floor (2000), Das jüngste Gewitter (2007) und Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach (2014) - hat Andersson ein Stück Kinogeschichte geschrieben. Als Genre kann man seine Filme nicht so richtig einordnen, was insbesondere für die Filmwissenschaft interessant und herausfordernd ist. Anderssons Werke sind inhaltlich und stilistisch bis auf ihre Essenz entkernt und auf das Wesentliche reduziert. Der Filmkritiker Larry Kardish nennt ihn einen „transzendentalen Filmemacher“: „Andersson hat einen so unverwechselbaren und originellen Weg des Filmemachens entwickelt, dass seine Arbeiten ein eigenes Genre begründen... Das Wunder an Anderssons Filmen ist, dass sie das Unliebsame und nicht Ausgesprochene über uns Menschen sichtbar machen. Und diese Geste ist von einer moralischen Verantwortung und Menschenliebe geprägt.“
Die Kamera von Gergely Pálos ist oft statisch und die Personen bewegen sich eingeengt innerhalb dieser starren Szenerie. Es sind Momentaufnahmen unserer Kreatürlichkeit, der Verletzlichkeit unserer Existenz. Wir erleben Hitler hilflos in seinem Bunker sitzend beim Einmarsch der Alliierten, und der Putz bröckelt schon von der Decke. Eine Reihe besiegter Soldaten marschiert desillusioniert in Richtung Kriegsgefangenenlager. Ein zum Tode Verurteilter bettelt um sein Leben. Die meisten Geschichten stammen allerdings aus dem Alltag: ein frustrierter Zahnarzt, der einem störrischen Patienten entflieht, ein alter Mann, der seine Frau schlägt mit der Begründung, dass er sie liebt. Ein Mann sitzt im Bus und weint, was eine Diskussion bei den Fahrgästen auslöst, ob man seine Traurigkeit überhaupt öffentlich zeigen dürfen sollte. So spielen sich auf dem Grat zwischen Tragödie und Komödie vor der distanziert beobachtenden Kamera Lebenssituationen ab, die gerade wegen ihrer stoischen Ruhe dem Publikum Zeit geben, sich berühren zu lassen. Andersson erläutert diesen Ansatz: „Ich denke, es ist ein hoffnungsvoller Akt, wenn man etwas schafft, das Verletzlichkeit zeigt. Denn wenn man sich der Verletzlichkeit des Menschen bewusst ist, wird man respektvoller und geht sorgfältiger mit dem um, was man hat. Ich möchte die Schönheit des Lebens betonen. Um das zu zeigen, muss man natürlich einen Gegensatz schaffen. Man muss die schlechten und grausamen Seiten des Lebens zeigen.“
Deswegen gibt es auch anrührende Szenen, wenn ein Vater seiner Tochter im strömenden Regen die Schuhe zubindet, Jugendliche spontan zu singen und zu tanzen anfangen oder eine versetzte Frau doch noch vom Bahnhof abgeholt wird. Das sind alles kleine Lichtblicke in der allgemeinen Trostlosigkeit des Seins, ein Funken, der unter der Dumpfheit des Lebens noch flackert und lebendig ist.
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Wenn der Glaubensvorrat restlos aufgebraucht ist, kann der schlimmste Alptraum eines Pfarrers (Martin Serner) wahr werden. | © Neue Visionen Filmverleih
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Helga Fitzner - 16. September 2020 ID 12466
Filmverleih-Link zu Über die Unendlichkeit
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