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Rezension


Wie der Krieg die Mitleidlosigkeit lehrt, zeigt Das große Heft





Gelernte Grausamkeit

Über seine Verfilmung des Romans Das große Heft der 2011 verstorbenen, ungarisch-schweizerischen Schriftstellerin Ágota Kristóf sagt der ungarisch-amerikanische Regisseur Jánosz Szász, es habe ihm Mühe bereitet, eine eher sachlich-nüchterne Inszenierung anzustreben, um dem Stil des Romans nahe zu kommen. Denn eigentlich sei er „ein Regisseur, der gerne emotional erzählt“. Vielleicht zum Glück ist das Drama Das große Heft nicht völlig gefühllos geraten. Und überhaupt ist fraglich, ob es gelingen kann, etwas mit und über Kinder ohne Emotionen zu erzählen. Sobald sie auftauchen, bangt, fürchtet, leidet man mit ihnen. Insofern regt der Film dazu an, sich den Roman durchzulesen, der sich nach Auskunft des Filmemachers und des in Berlin tätigen Produzenten Sándor Soeth durch eine unaufgeregte Nüchternheit und einen verknappten, sprachlichen Stil auszeichnet.




Das große Heft - Foto © Amour Fou Filmproduktion



Die Coming-Of-Age-Story handelt von zwei jungen Zwillingsbrüdern aus großbürgerlichem Hause in Budapest, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von ihren Eltern aus Sicherheitsgründen zu ihrer bärbeißigen Großmutter (großartig: Piroska Molnár) aufs Land geschickt werden. Dort müssen sich die Zwillinge (beeindruckend: András & László Gyémánt) emotional und physisch abhärten, um das entbehrungsreiche Landleben und die näher rückenden Kriegsgeschehnisse zu überstehen. Letzteres hält auf dem heruntergekommen Hof der fiesen alten Vettel in Person eines gespensterhaft umhergeisternden Wehrmachtsoffiziers (Ulrich Thomsen) und seines gelackten Adjudanten (Sabin Tambrea) und natürlich als Bombenangriffe Einzug. Die Welt der Erwachsenen erweist sich den beiden 13-Jährigen entgegen aller vorgeschobener Christlichkeit als ungerecht, brutal und moralisch aus allen Fugen. Szász sagt, er habe versucht, „die untergründige Emotionalität der Romansprache“, die den Schmerz der Kinder nicht ausbuchstabiert, sondern nur erahnen lässt, in Bilder zu übersetzen.

Tatsächlich bildet die konzentrierte Kameraarbeit von Christian Berger (Die Wand, Das weiße Band) zusammen mit den schauspielerischen Leistungen eine Kombination, die dem kindlichen Erlernen von Gefühllosigkeit eine faszinierende Schaurigkeit verleiht. Das wird wohl dem Geist des Buches einigermaßen gerecht, das wie ein Tagebuch aus notizenartigen Passagen bestehen soll, die Angst und Bedrückung eher heraufbeschwören als drastisch zu schildern. Auch wenn die dramatischen, aneinandergereihten Episoden in Das große Heft zeitweise zur Nummernrevue zu mutieren drohen, gelingt es Regisseur Szász doch, dem ausgelutschten Genre des Kriegsdramas einige neue Facetten zu verliehen.




Das große Heft - Foto © Amour Fou Filmproduktion



Sichtlich bewegt nahm Produzent Sándor Soeth im vergangenen Juli aus den Händen von US-Regiestar Oliver Stone den Hauptpreis des wichtigsten internationalen Filmfestivals in Osteuropa im tschechischen Karlovy Vary entgegen. Soeth empfand den mit 19.000 Euro dotierten Karlsbader Kristallglobus auch als Lohn für seine Hartnäckigkeit, die Verfilmung von Das große Heft mithilfe deutscher Fördergelder, ungarischen, österreichischen und französischen Partnern über viele schwierige Jahre voranzutreiben. Denn die Entstehungsgeschichte des Films spiegelt die Turbulenzen wieder, in denen sich die ungarische Kultur- und Medienpolitik seit dem Antritt der konservativen-nationalistischen Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán befindet.

„Geplant wurde ‚Das große Heft‘ noch unter den alten Bedingungen“, berichtet Sándor Soeth. Dann aber wurde die ungarische Koproduktionsfirma, wie so viele andere auch, von heute auf morgen per Dekret verstaatlicht. Offiziell sollte damit verhindert werden, dass Firmen automatisch staatliche Förderung erhalten, ohne für Transparenz bei ihrem Finanzierungsgebaren zu sorgen. Die leichtere Kontrolle über die Produktionsszene wird für die Orbán-Regierung aber ein nicht unliebsamer Nebeneffekt gewesen sein. „Wir hatten plötzlich ganz andere Ansprechpartner“, sagt Soeth, der nach 2010 mit den Vorbereitungen zum Drehen gezwungenermaßen abwarten musste, bis sich die Wogen in Budapest geglättet hatten.

Mittlerweile hat die Regierung Orbán bei der staatlichen Filmförderung ein Intendantenmodell durchgesetzt, dem Andrew Vajna vorsitzt, der als Produzent von Blockbustern wie I Spy oder Terminator 3 in Hollywood Erfolge feierte. Vanja hat bei Abstimmungen über Förderanträge, wie alle Mitglieder des fünfköpfigen Fachgremiums, nur eine Stimme (wie alle Anderen), und eine Einmischung auf Inhalte gebe es nicht, versichert die Vorsitzende des Hungarian Film Fund, Ágnes Havas. Ihre Institution warb in Karlsbad um Vertrauen, denn die ungarische Filmindustrie ist bei größeren Projekten auf ausländische Partner angewiesen, bei denen noch viel Skepsis über den staatsdirigistischen Kurs der Orbán-Regierung herrscht. Zumindest für den Berliner Sándor Soeth führte die Geduld mit seinen Landsleuten zum Happy End.




Das große Heft - Foto © Amour Fou Filmproduktion



Bewertung:    


Max-Peter Heyne - 7. November 2013 (2)
ID 7342

Weitere Infos siehe auch: http://www.das-grosse-heft.de/


Post an Max-Peter Heyne



 

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