Zwischen zwei
Gesinnungen
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Bewertung:
Er ist wohl der bekannteste Schulverweigerer in der deutschen Literatur: Siggi Jepsen aus dem Roman Deutschstunde, der von Siegfried Lenz 1968 geschrieben und seitdem von mehreren Generationen im Deutschunterricht durchgenommen wurde. Die mehrfach ausgezeichnete Drehbuchautorin Heike Schwochow hat sich durch die 600 Romanseiten gearbeitet und damit die Vorlage für eine der besten Literaturverfilmungen der letzten Jahre geliefert. Mit der nötigen filmischen Freiheit und trotzdem größtmöglicher Werktreue hat ihr Sohn Christian Schwochow (TV-Serie Bad Banks) Regie bei der Verfilmung von Deutschstunde geführt und sich getraut diesen genau so sperrig und bedrückend zu inszenieren, wie der Roman es vorgibt. So gewinnt man einen anschaulichen Eindruck von einer belastenden Zeit. Das Drehbuch besticht dadurch, dass es die Vorlage nicht nur bebildert, sondern den historischen Stoff verallgemeinert, keine Nazi-Symbolik, Aufmärsche oder Ähnliches benötigt, und damit eine zeitlose und universelle Bedeutung gewinnt.
Der jugendliche Siggi Jepsen (Tom Gronau) sitzt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Strafanstalt und soll eine Klassenarbeit über „Die Freuden der Pflicht“ schreiben. Er sieht sich dazu außerstande und gibt ein leeres Heft ab. Es läge daran, dass ihm zu viel dazu einfiele und er die Vielfalt der Gedanken in keine Ordnung bringen könne. Doch die Anstaltsbetreiber sehen darin einen Akt des Widerstands und stecken ihn mit Heft und Stift in Einzelhaft, bis er was geschrieben hat. Als das erste Heft voll ist, wollen sie ihn wieder herauslassen, weil es ihnen nur um Gehorsam und Disziplin ging, aber Siggi fordert mehr Hefte, bleibt in der Einzelzelle und schreibt sich die Ereignisse seiner Kindheit von der Seele.
Die zentrale Hauptfigur ist der 11jährige Siggi, mit dessen Besetzung der Film steht und fällt. Der 2006 geborene Levi Eisenblätter ist trotz seiner jungen Jahre schon Filmprofi (Timm Thaler, 2015) und erweist sich als außerordentlicher Glücksgriff. Siggi wird zwischen seinem Vater, dem Dorfpolizisten Jens Ole Jepsen (Ulrich Noethen) und seinem Patenonkel, dem Maler Max Ludwig Nansen (Tobias Moretti), zerrieben. Während sein Vater die Pflichterfüllung und Obrigkeitsgläubigkeit über alles stellt, ist Nansen ein Künstler und Freidenker, der für die Kinder seines Freundes Jepsen mehr Gefühle aufbringen kann als dieser selbst. Die Freundschaft der Männer wird während des Dritten Reiches auf die Probe gestellt, als Nansens Bilder als entartete Kunst eingestuft werden und Jepsen das Malverbot überwachen muss. Dabei versuchen beide Männer Einfluss auf den kleinen Siggi zu nehmen ohne zu merken, wie sehr dieser dabei Schaden nimmt. Im Film wird das anhand von Siggis Sammlung diverser Tierkadaver illustriert.
Die immer erbitterter werdende Auseinandersetzung der beiden Männer ist um so absurder, als sie sich praktisch in der Einöde abspielt. In einem kleinen Küstendorf, fernab von den Schaltzentralen politischer Macht, prallen hier gegensätzliche Lebenseinstellungen aufeinander, die auf Kosten des kleinen Jungen gehen. Jepsen verlangt, dass Siggie Nansen überwacht und denunziert, wenn dieser wieder malen sollte. Als Nansen verhaftet wird, verlangt der von Siggi, sich um seine alkoholkranke Frau (Johanna Wokalek) zu kümmern, womit der Junge völlig überfordert wäre. Jepsens Wahn der Pflichterfüllung geht soweit, dass er sie über das Leben seiner eigenen Familie stellt und seinen ältesten Sohn dem sicheren Tod ausliefert. Seine Selbstgerechtigkeit und Zufriedenheit dabei ist so widerwärtig inszeniert wie die Tat selbst ist. Keiner der beiden Männer scheint seine Lebenseinstellung den Realitäten und den Bedürfnissen des kleinen Siggi anzupassen.
Die Weite des Meeres und der Küste, die ausführlich und in allen Schattierungen gefilmt wurde, evoziert aber keine Freiheit und Ausdehnung. Im Roman spielen die Naturgewalten eine wichtige metaphorische Rolle, die der Film adäquat umsetzt. Oft ist alles nur grau und matschig, das Meer wirkt bedrohlich, und es ist fast alle Farbe und Licht aus den Bildern gewichen wie auch aus den Gesichtern der Ehefrauen. Ditte Nansen war früher Sängerin und ertränkt ihren Schmerz in Alkohol. Jepsens Frau Gudrun (Sonja Richter) hat kaum Dialog, ist aber ein sehr präsentes Bild des stummen Leidens und der Ausweglosigkeit. Wegen der Sprachlosigkeit bei Jepsens eignet sich der kleine Siggi sein Verständnis der Welt durch Schauen an, und was er sieht, ist erschütternd. Lenz hat mit Jepsen und Nansen Prototypen verschiedener Charaktere geschaffen, eine Parabel innerhalb eines Mikrokosmos, wie es zu den Exzessen während des Dritten Reiches kommen konnte. Der fanatische Pflichterfüller, der die Ideologie des Dritten Reiches wie ein Schwamm aufsaugt und dessen Verbrechen rechtfertigt, und der Bohemien, der dafür nur Verachtung empfindet, aber nichts Konstruktives beiträgt. Die Länge der Einstellungen, die Zähigkeit des Dialogs und die Borniertheit der Männer geben einen Eindruck von der Schwere des Lebens unter einem totalitären Regime. Als der Nazi Jepsen nach dem Krieg aus der Haft entlassen wird, ist ganz klar, dass er mit seinem Wahn der Pflichterfüllung weiter machen wird. Er hat nichts dazu gelernt, und auch Nansen unterschätzt seine Rolle bei der geistigen Verwirrung von Siggi, die ihn letztendlich unschuldig in die Haft geführt hat. Er würde vielmehr psychologische Hilfe benötigen.
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Als Siegfried Lenz 1968 das Buch veröffentlichte, wurden die alten Strukturen endlich aufgebrochen mit all den Folgen, die das für die Beteiligten und unsere Republik hatte. Lenz war kein 68er, aber sein Roman war eine Antwort auf die Fragen der nachgeborenen Generation. Der Film Deutschstunde ist keineswegs vergnüglich, aber er schärft auch den Blick für die Fragen der heutigen jungen Generation an die ältere, denn das Beharren auf destruktiven Standpunkten ist auch ein Phänomen unserer Zeit.
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Der kleine Siggi (Levi Eisenblätter) steht unter dem Druck seines Vaters, den Dorfpolizisten Jens Ole Jepsen (Ulrich Noethen) | © Wild Bunch Germany GmbH
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Helga Fitzner - 2. Oktober 2019 ID 11715
Weitere Infos siehe auch: https://www.wildbunch-germany.de/movie/deutschstunde
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