Die Poesie
des Wahnsinns
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Bewertung:
Die rustikale Villa Biondi in der sonnendurchfluteten Toskana sieht eher wie eine attraktive Sehenswürdigkeit aus, doch sie dient als psychiatrische Anstalt für Frauen. In dem Film Die Überglücklichen des italienischen Regisseurs Paolo Virzì wollte es das Schicksal (bzw. das herausragende Drehbuch von Virzì und Francesca Archibugi), dass die ehemalige Besitzerin, Gräfin Beatrice (Valeria Bruni Tedeschi), dort Insassin ist. Sie hat für ihren Geliebten, einen Berufsverbrecher, kriminelle Handlungen begangen, all ihr Vermögen verprasst und auch ihre Villa verloren. Dort herrscht sie aber immer noch und sieht nach dem Rechten. Sie selbst leidet u.a. an Mythomanie, redet also ohne Unterlass und lügt das Blaue vom Himmel herunter, kann aber wirklich nichts dafür, weil es zum Krankheitsbild gehört. Sie verbietet sich die Bevormundung durch das Klinikpersonal und bildet sich ein, immer noch ein hochherrschaftliches Haus zu führen.
Als eines Tages die völlig angeschlagene Donatella (Micaela Ramazzotti) eingeliefert wird, gibt Beatrice sogar vor, Psychiaterin zu sein. Ihre Befragung und Einsichten in Donatellas Zustand sind sehr überzeugend und korrekt, werden aber vom echten Personal unterbrochen. Doch irgendwie ist ein Band zwischen den Frauen entstanden, und Beatrice kümmert sich rührend um die desolate junge Frau, die darunter leidet, dass man ihr den kleinen Sohn weggenommen und zur Adoption frei gegeben hat.
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Gräfin Beatrice (Valeria Bruni Tedeschi) nimmt sich der frisch eingelieferten Donatella (Micaela Ramazzotti) an | © Neue Visionen Filmverleih GmbH
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Durch einen Zufall gelingt es den beiden nach der Gartenarbeit auszubüxen, und sie begeben sich gemeinsam auf die Suche, Beatrice nach ihrem Geliebten und Donatella nach ihrem Sohn: Ein Roadtrip zweier Glückssucherinnen. Unterwegs gelingt es Beatrice durch ihr Auftreten, auf der Bank Geld abzuheben, mehrere Wagen zu entwenden und etliche Leute zur Verzweiflung zu bringen. Dabei werden die beiden von einem Teil des Klinikpersonals gesucht, um nicht zu sagen, gejagt, können aber immer wieder entwischen.
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Beatrice (Valerie Bruni Tedeschi) und Donatella (Micaela Ramazzotti) sind ausgebüxt und haben ein Auto geklaut | © Neue Visionen Filmverleih GmbH
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Paolo Virzì ist eine warmherzige Dramödie gelungen, die von der grandiosen schauspielerischen Leistung ihrer Protagonistinnen lebt. Sie verfolgen ihre selbst gewählte Therapie, indem sie sich den Verletzungen und Dämonen stellen, die sie in die Anstalt gebracht haben. Donatella setzt sich ihrer Familiengeschichte aus, die aus zwei unfähigen Elternteilen besteht. Beatrices Wiedersehen mit ihrem Geliebten löst auch einen Bewusstseinsprozess in ihr aus. Nebenbei erlaubt sich Virzì ein paar kritische Seitenhiebe auf die Psychiatrie und ihre vielen Medikamente, von denen Donatella zu allem Übel süchtig geworden ist. Auch in der Selbstverständlichkeit, mit der sich die Gräfin der Korruption und Bestechlichkeit bedient, ist ausreichend Sozialkritik angebracht, aber nicht so schmerzlich, wie in Virzìs erfolgreichen Klassenkampfdrama Die süße Gier von 2014. Virzì zeigt das Leid dieser zerbrechlichen Menschen, die in der Gesellschaft keinen Rückhalt haben, eingesperrt und ausgesperrt zugleich sind.
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Ist dies das Ende des Roadtrips? Beatrice (Valerie Bruni Tedeschi) und Donatella (Micaela Ramazzotti) sind völlig erschöpft | © Neue Visionen Filmverleih GmbH
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Die Schauspielerinnen haben sich sehr gut auf ihre Rollen vorbereitet. Micaela Ramazzotti erzählt: „Das Treffen mit den Patienten war eine sehr intensive Erfahrung. Wir haben schmerzvolle Fälle kennengelernt, aber auch Menschen, mit denen wir über konkrete Dinge sprechen konnten, vor allem darüber, wie schwierig es ist ist, zu leben, wenn man so verletzlich ist. Manchmal wurden wir Zeugen einer sehr euphorischen Energie, denn Geisteskrankheiten sind auch komisch, poetisch, surreal, respektlos, es ist fast eine Art Rebellion.“ Es ist eine schöne Erfahrung für die Zuschauer, dass der Humor, das Lachen und die Lebensfreude selbst in so einer Umgebung partiell erhalten bleiben kann.
Paolo Virzì meint: „Alle Filme sind Therapie. Sie helfen – ich will nicht sagen, zu heilen – aber zumindest helfen sie, das Leben besser zu verstehen, vor allem wenn sie die Komödie mitten im Herz der Tragödie oder des Dramas ans Licht bringen.“
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Helga Fitzner - 29. Dezember 2016 ID 9772
Weitere Infos siehe auch: http://www.die-uebergluecklichen.de/
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