Sex für
Behinderte
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Bewertung:
Der Trend, Kinofilme für das Theater zu adaptieren, ist nach wie vor ungebrochen. Dass es auch andersherum ganz gut funktionieren kann, zeigt nun die Schweizer Regisseurin Stina Werenfels mit ihrem neuen Werk Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern. Der Film basiert auf einem Theaterstück des bekannten Schweizer Dramatikers Lukas Bärfuss, das von Barbara Frey 2003 in Basel uraufgeführt wurde. In der Rolle der geistig behinderten Dora, die nach dem Absetzen der Medikamente ihre Sexualität entdeckt, stand die jungen Sandra Hüller auf der Bühne. Das Stück lief danach ziemlich erfolgreich auf mehreren deutschsprachigen Bühnen und wurde in 12 weitere Sprachen übersetzt.
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Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern |(C) Alamode Film
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Der Wunsch Bärfuss' Sexuellen Neurosen unserer Eltern zu verfilmen, entstand bei Stina Werenfels schon ziemlich kurz nach der Uraufführung. Dass das Stück jetzt erst seinen Weg auf die Leinwand gefunden hat, liegt sicher an den langen Finanzierungszeiten von unabhängig produzierten Autorenfilmen. Das Thema hat dadurch aber nichts an Aktualität eingebüßt, werden doch die Fragen der Inklusion Behinderter gerade auch in der darstellenden Kunst gerade wieder stark diskutiert. Und auch in Stina Werenfels Film haben Schauspieler des integrativen Berliner Theaters Ramba Zamba ihren ganz besonderen Auftritt.
Eine weitere nette Randbemerkung für Theaterliebhaber: Im Cast des Films befinden sich einige ehemalige und aktuelle Schaubühnendarsteller wie Jenny Schily und Urs Jucker als wohlmeinende Eltern von Dora sowie Lars Eidinger, z.Z. der absolute Star der Ostermeier-Bühne am Lehniner Platz, der den Part des geheimnisvollen, zwielichtigen „feinen“ Manns - und das nicht nur in Filmen auf der BERLINALE - einmal mehr grandios verkörpert. In der Rolle der 18jährigen Dora aber ist die vielversprechende Nachwuchsschauspielerin Victoria Schulz zu erleben. Ihr Spiel der sexuell Erwachenden und ganz naiv aber bewusst ihren Trieben folgenden jungen Frau wirkt vollkommen natürlich, berückend, jedoch niemals peinlich. Teilweise verschwimmende Kamerabilder und Fokussierungen auf Randdetails sind der Versuch, die Welt durch die Augen Doras zu entdecken.
Ausgehend von einer ausgelassen Kindergeburtstagsparty beginnt nach dem Absetzen der Pillen bei Dora eine Pubertät im Schnelldurchlauf, der die verständnisvoll liebenden Eltern nicht gewachsen sind. Das sogenannte „Scheidenpimmelchen-Spiel“, das bei ihnen nur noch gelegentlich für Lust sorgt, soll nun für Dora zum festen Bestandteil ihres neuen Lebens werden. Und mit Peter (Lars Eidinger) trifft sie auf den Mann, der ihr das, wenn auch nicht ganz ohne Eigennutz, ermöglicht. Das erste Treffen der beiden in einer U-Bahn-Toilette, auf die Dora dem von ihr angehimmelten Pharmavertreter folgt, inszeniert Regisseurin Werenfels als Mischung aus unschuldig, neugierigem Flirt mit Granatapfelsymbol und brutaler Vergewaltigung.
Bei allem Ernst und Not der Eltern mit den nun folgenden rechtlichen Fragen bei der Anzeige Peters sowie bei Verhütung und Abtreibung entbehrt der Film nicht an Witz und nötiger Entspanntheit, die zumindest dem Elternpaar ob der sexuellen Aktivitäten ihrer Tochter etwas abhanden zu kommen scheint. Ihre „Neurosen“ entspinnen sich zwischen angespannter Liberalität und Kontrollwahn bis hin zu vollkommener Hilflosigkeit und sexuellem Frust, der angesichts der Schwangerschaft Doras in Eifersuchtsanfälle der Mutter münden, die selbst gern noch ein „gesundes“ Kind bekommen würde.
Das auch die schwangere Dora ihre unangenehmen Erfahrungen mit Liebe und Sex macht, spart der Film aber nicht aus. Beim Versuch Peters, sie zu einem Dreier mit einem Kollegen zu animieren, sagt Dora zum ersten Mal nein, was Peter dann zwar akzeptiert, sich aber mehr und mehr aus der für ihn schwierig werdenden Beziehung verabschiedet. Die unklare Figur des völlig frei von jedweder Verantwortung agierenden Peter ist ein anderer Aspekt des Films, dem Stina Werenfels allerdings weiter nicht allzu viel an Bedeutung beimisst. Da sind dann der Projektionslust der Zuschauer keine Grenzen gesetzt.
Hier entfernt sich auch Werenfels‘ Adaption des Bühnenstoffs am weitesten vom Original. Bärfuss lässt das Elternpaar in einem flotten Dreier auf einem Campingplatz ihre sexuellen Fantasien ausleben, wogegen sie ihre Tochter beim Schwangerschaftsabbruch am Ende sicherheitshalber gleich noch sterilisieren lassen. Mit selbstbestimmtem Sex für Behinderte kann sich die Gesellschaft da noch nicht anfreunden. Im Film wird Dora ihr Baby, zwar unter desillusionierenden und recht dramatischen Umständen, aber schließlich doch austragen, während Mutter Kristin im Drogenrausch enthemmt ihr sexuelles Unterbewusstsein erlebt. Mit oder ohne Pillen, ist hier nicht die Frage. Es bleibt in jedem Fall kompliziert. Eine schöne Pointe zum Schluss.
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Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern |(C) Alamode Film
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Stefan Bock - 21. Mai 2015 ID 8655
Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern (CH/D 2015)
Regie: Stina Werenfels
Buch: Stina Werenfels und Boris Treyer
Kamera: Lukas Strebel
Musik: Peter Scherer
Besetzung:
Dora ... Victoria Schulz
Peter ... Lars Eidinger
Kristin ... Jenny Schily
Felix ... Urs Jucker
Weitere Infos siehe auch: http://www.dschointventschr.ch/de/movies/fiction/dora-oder-die-sexuellen-neurosen-unserer-eltern
Post an Stefan Bock
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