Wem die
Stunde
schlägt
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Bewertung:
Die dänische Regisseurin Lone Scherfing, deren satirische 2000er-Komödie Italienisch für Anfänger noch immer ihr bislang bester Film gebleiben ist (und auch im Angesicht dieses Films bleibt) hat sich für die Tragikomödie Ihre beste Stunde mit zwei erfolgreichen britischen Produzenten zusammengetan: Mit Amanda Posey hat Scherfing bereits 2009 An Education realisiert, Stephen Wooley zeichnet u.a. für die Existenz solch genialer Gay- bzw. Transgender-Lovestories wie The Crying Game (1992) und Carol (2015) verantwortlich. Ihre beste Stunde ist zwar deutlich konventioneller geraten als die genannten Filme und reiht sich ein in eine lange Reihe von Liebesdramen, die zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs spielen. Aber zwei Faktoren verhindern, dass die Geschichte von sentimentaler Klebrigkeit weitgehend (wenn auch nicht ganz) verschont bleibt: Die Lovestory wird komplett aus weiblicher Perspektive erzählt und spielt zudem in der Londoner Filmszene.
Dort wurden in der Kriegszeit ebenso rührselige wie kämpferische Propagandafilme gedreht, die die britische Bevölkerung zum Überstehen der deutschen Bombenangriffe und zum Unterstützen der eigenen Armee motivieren sollten. Dabei ist natürlich viel patriotischer oder schönfärberischer Kitsch herausgekommen, aber auch der eine oder andere beachtliche Film, bei denen erstmals ganz bewusst Menschen aus den unteren Gesellschaftsschichten im Mittelpunkt standen. Die Karrieren von Regisseuren wie Michael Powell und Carol Reed, die kurz nach dem Krieg mit den Filmen Die Roten Schuhe bzw. Der dritte Mann Welterfolge feiern konnten, nahm beispielsweise mit kriegsunterstützenden Filmen, die vom Informationsministerium der damaligen britischen Regierung gefördert wurden, ihren Anfang.
Die Romanvorlage von Lissa Evans und das Drehbuch von Gaby Chiappe stellen das Schicksal von Catrin Cole (Gemma Arterton) in den Mittelpunkt, die den Drehbüchern der Durchhaltefilme eine explizit weibliche Note verleihen soll, damit auch das weibliche Kinopublikum Identifikationsfiguren auf der Leinwand wiederfindet. Catrin selbst ist jedoch eine viel zu selbstbewusste und patente Person, als nur die von ihr erwartenden klebrigen, schmachtenden Frauendialoge in den kreativen Prozess des Drehbuchschreibens einzubringen. Umso mehr fängt die junge Frau Feuer, als sich die Chance auftut, vermeidliche Heldinnen in Röcken im britischen Hinterland als Vorbilder für eine Story zu nutzen, die dann auch die von den Produzenten gewünschte Authentizität atmet. Doch Catrin muss schnell einsehen, dass in diesem Fall die Wirklichkeit nicht die beste Geschichte liefert: Die Story von den Zwillingsschwestern, die an der westenglischen Küste Marinesoldaten angeblich das Leben gerettet haben, ist eine Mär – wenn auch eine schöne.
Aber wer erwartet vom Kino – erst recht, wenn es um einen herum Bomben hagelt und ganze Wohnblocks sich in Schutt verwandeln – die Wahrheit zu sehen? Die bislang durchweg männlichen Skriptschreiber des Studios haben Übung darin, eine fade Story aufzupeppen, und Catrin trägt ihren femininen Anteil dazu bei, dass eine Geschichte entsteht, die für beiderlei Geschlechter interssant genug ist. Dies muss auch der schneidige Hauptautor des Studios, Tom Buckley (Sam Claflin) erkennen, der durch die Arbeit an den kriegswichtigen Filmen zum Zyniker geworden ist und sich an die Vorstellung einer gleichwertigen weiblichen Kollegin erst langsam gewöhnen muss. So wie andere Männer in der durch den Krieg sich zwangsweise wandelnden Gesellschaft lernt Tom, dass Frauen ihren Mann stehen können. Und er lernt seine neue, ebenso fleißige wie fanatsiebegabte Partnerin – man ahnt es leider schnell – schätzen und lieben. Zumal diese auch am Set mit dem oft allürenhaften Darstellern durch weibliche Überzeugungskraft gut zurecht kommt.
Drehbuch und Regie servieren die Liebesgeschichte zwischen Catrin und Tom gottlob nicht auf dem Silbertablett und versagen dem Paar zudem auf nachgerade perfide Weise auch ein Happy End. Sie unterlaufen damit quasi genau jene Schönfärberei, von denen die Propagandafilme durchwirkt waren. Die bedrückende Atmosphäre der Folgen des Luftkrieges und die Kunstwelt der Kriegsfilme sorgen für wechselnde tragische und absurd-komische Stimmungen, die einander bereichern. Zudem bekommt man ein gutes Gefühl dafür, wie wichtig den Kreativen damals die Gegenwelt des Films war, die ihnen ebenso wie ihrer Kundschaft im Kino kleine Fluchten vor dem Alltagselend ermöglichte. Weitere Pluspunkte des Films sind die famose Gemma Arterton und die bis in kleinste Rollen passend besetzten DarstellerInnen, die zum Teil wunderbar schrullige Figuren verkörpern dürfen, allen voran der wunderbare Bill Nighy (Underworld, Best Exotic Marigold Hotel) als überkandidelter britischer Filmstar, der erkennen muss, dass seine beste Zeit vorbei ist.
Satirische Spitzen gegenüber britischer Selbstgenügsamkeit, die Assoziationen zur aktuellen Brexit-Situation erlauben, hat Lone Scherfing geschickt eingebaut. Eine gewisse Sterilität der Inszenierung konnte sie dennoch nicht verhindern.
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Ihre beste Stunde | (C) Concorde Filmverleih
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Max-Peter Heyne - 5. Juli 2017 ID 10128
Weitere Infos siehe auch: http://www.ihrebestestunde.de
Post an Max-Peter Heyne
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