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Deutsches Kino

Mikrokosmos

des Grauens



Bewertung:    



Als der 13jährige gesunde Junge Ernst Lossa (Ivo Pietzcker) im Jahr 1942 in eine Nervenheilanstalt kommt, wundert er sich zunächst. Er hat mit den teilweise Schwerkranken und Behinderten nichts gemein, seine Diagnose lautet lediglich „nicht erziehbar“. Als ihm der Anstaltsarzt Dr. Veithausen (Sebastian Koch) erklärt, dass es dort keine Schule gibt, ist er dann eigentlich doch ganz zufrieden. Ihm fällt allerdings der Drill etwas schwer, denn Ernst gehört zur Bevölkerungsgruppe der Jenischen. Das ist ein fahrendes Volk mit eigener Sprache und Kultur, das oft mit Zigeunern gleichgesetzt wurde und den regierenden Nationalsozialisten wegen ihrer Andersartigkeit ein Dorn im Auge war.

Der Film Nebel im August unter der Regie von Kai Wessel basiert auf der Krankenakte des realen Ernst Lossa, der ein Opfer der Euthanasiegesetzgebung der Nationalsozialisten wurde. Der Tatsachenroman stammt von Robert Domes und das Drehbuch von Holger Karsten Schmidt, der allerdings nur den letzten Lebensabschnitt des Jungen beschreibt. Durch die Augen des gerade angekommenen jungen Ernst Lossa lernen auch die Zuschauer allmählich den Alltag und die Zustände in der Anstalt kennen. Ernst hat ein sehr offenes Wesen und freundet sich mit einigen der Mitinsassen an, auch wenn die krank und eingeschränkt sind. Schwester Sophia (Fritzi Haberlandt) ist eine fürsorgliche Ordensschwester, und Dr. Veithausen scherzt und spielt mit den Kindern, die ihm vertrauen. Eine besondere Beziehung entwickelt Ernst zu der fallsüchtigen Nandl (Jule Hermann), die keine Familie hat, die sich um sie kümmern könnte, die aber abgesehen von den epileptischen Anfällen eine intelligente und gesunde Person ist.



Dr. Veithausen (Sebastian Koch) und Schwester Sophia (Fritzi Haberlandt) kümmern sich rührend um die behinderten Kinder | (C) Studio Canal


Zusammen mit Ernst geraten die Zuschauer dann allmählich in den Sog des Grauens. In dem Mikrokosmos der Anstalt kommt es zu seltsamen Vorgängen, die Ernsts Misstrauen erregen. Gelegentlich werden Patienten abtransportiert, und es geht das Gerücht, dass sie nicht mehr lange leben werden. In der Tat war es zuerst Praxis, die als „unwertes Leben“ betrachteten Behinderten außerhalb der Kliniken zu töten. Das Programm nannte sich „T4“ und wurde von Berlin aus gesteuert. Zwischen 200.000 und 300.000 Kranke sollen in dieser Zeit ermordet worden sein. (Der überwiegende Teil der Akten wurde vernichtet). Doch die Transporte wurden von der Öffentlichkeit bemerkt, so dass man sich entschloss, die „Leidenden“ fortan direkt in den Kliniken zu „erlösen“.




Ernst Lossa (Ivo Pietzcker, Mitte) durchschaut die vermeintliche Normalität. In weiteren Rollen Niklas Post und David Bennent | (C) Studio Canal, Anjeza Cikopano


Im Film zeigt sich das daran, dass die Krankenschwester Edith Kiefer (Henriette Confurius) als zusätzliche Kraft in der Anstalt arbeitet. Ihr engelsgleiches Aussehen und die liebevolle Geste, mit der sie ausgewählten Kindern Himbeersaft verabreicht, täuscht zunächst darüber hinweg, dass sie die Kinder mit Barbituraten vergiftet. Der Himbeersaft dient nur dazu, den bitteren Geschmack zu überdecken.



Die Krankenschwester Edith Kiefer (Henriette Confurius) reicht ungerührt den Kindern tödlichen Himbeersaft | (C) Studio Canal


Mittlerweile entwickelt sich der Verlauf des Zweiten Weltkrieges zu Ungunsten der Deutschen, und auch die Anstalt wird von Angriffen der Alliierten nicht verschont.

Sebastian Koch als Dr. Veithausen und Henriette Confurius als Krankenschwester sind deshalb so unheimlich, weil sie den äußeren Anschein der Menschlichkeit wahren, aber rücksichtslos ihre Tötungsquote erfüllen. Gerade die Normalität der Bürokratie des Tötens geht unter die Haut. Es waren äußerlich keine Monster, die solche Anordnungen befolgten. Dr. Veithausen ging sogar so weit, eine Suppe ohne Nährwert zu erfinden, so dass nach außen hin nicht der Eindruck entstehen konnte, dass man die Patienten verhungern ließ.

Ivo Pietzcker spielt den aufgeweckten Ernst Lossa mit großer Intensität. Durch die erfundene Figur der Nandl gibt es parallel eine zarte und unschuldige Liebesgeschichte, die mitten in der Endphase des Krieges und inmitten einer Tötungsanstalt erblüht. Das ist ein wirkungsvoller Kontrast im sehr gelungenen Drehbuch. Die Drehorte sind gut ausgewählt, Hagen Bogdanskis Bildgestaltung grandios wie auch die schauspielerischen Leistungen von Thomas Schubert als Veithausens Assistent, Karl Markovics als Ernst Lossas Vater, dem jungen Niklas Post als Patient Josef und einem einfach „irren“ David Bennent als Insassen und viele andere. Ihnen ist es gelungen, eine unheilvolle Geschichte meisterhaft zu erzählen, teilweise spannend wie ein Krimi, und dabei sehr menschlich. Ein exzellenter Versuch, dem heutigen Publikum dieses schwierige Thema zu vermitteln und dabei trotzdem einen ästhetischen Genuss bereit zu halten.

*

Die Filmemacher meinen, dass sich wegen dieser Vergangenheit die Deutschen heute mit der aktiven Sterbehilfe schwerer tun als andere Nationen. Es ist schon ein klarer Unterschied zwischen der Entscheidung zu einem selbstbestimmten Sterben und dem hinterhältigen Mord an wehrlosen Schutzbefohlenen.


Helga Fitzner - 28. September 2016
ID 9587
Weitere Infos siehe auch: http://www.studiocanal.de/kino/nebel_im_august


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