Radikalisierung
der Frauen-
bewegung
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Bewertung:
Die Kinder, die heute in Deutschland groß werden, kennen es nicht anders: eine Frau an der Spitze des Staates. Vor hundert Jahren durften Frauen nicht mal wählen gehen, geschweige denn politisch Einfluss nehmen. Das Ringen um das Frauenwahlrecht war langwierig und wurde immer unerbittlicher. Der Film Suffragette – Taten statt Worte der britischen Regisseurin Sarah Gavron arbeitet filmisch die realen Ereignisse in London um 1910 auf. Nach einem halben Jahrhundert ergebnisloser Verhandlungen, in denen Frauen das Wahlrecht verweigert wurde, schlagen 1910 Mitglieder der Frauenbewegung Fensterscheiben mit Steinen ein. Das ist der Beginn einer zunehmend gewalttätigen Auseinandersetzung auf beiden Seiten. Der Staat reagiert mit unverhältnismäßiger Härte, was die Frauen zu immer radikaleren Mitteln veranlasst. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt ist in Gang gesetzt.
Maud Watts (Carey Mulligan) ist Arbeiterin in einer Wäscherei und gerät beim Wäscheaustragen in die Menge der Steinwerferinnen und ihrer Verfolger. Sie kehrt unverrichteter Dinge zu ihrem Mann Sonny (Ben Whishaw) und ihrem kleinen Sohn zurück. Auch Sonny arbeitet unter erbärmlichen Bedingungen in der Wäscherei, aber die drei bilden eine kleine Insel des Familienglücks in einer für sie sonst sehr düsteren Welt.
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Maud Watts (Carey Mulligan) schuftet rechtlos und für einen Hungerlohn in einer Wäscherei | © Concorde Filmverleih
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Maud wurde in der Wäscherei geboren, ihre Mutter starb dort bei einem Arbeitsunfall, und Maud war der Tyrannei und den sexuellen Übergriffen ihres Bosses Taylor (Geoff Bell) schon in sehr jungen Jahren ungeschützt ausgesetzt. Jetzt ist sie 24 Jahre alt, aber schon längst nicht mehr jung, denn die harte Arbeit, die Feuchtigkeit und die giftigen Dämpfe in der Wäscherei verkürzen die Lebenserwartung drastisch. Der Gedanke an die Frauenbewegung lässt Maud nicht mehr los. Gegen den Willen ihres Mannes sucht sie Kontakt zu diesen Frauen, darunter ihre Arbeitskollegin Violet (Anne-Marie Duff) und die militante Apothekerin Edith Ellyn (Helena Bonham-Carter).
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Die Wäscherinnen Violet (Anne-Marie Duff) und Maud (Carey Mulligan) und die Apothekerin Edith Ellyn (Helena Bonham-Carter, re.) lauschen einer Rede der berühmten Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst | © Concorde Filmverleih
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Die Autorin Abi Morgan, aus deren Feder u.a. Die Eiserne Lady und The Invisible Woman stammt, vermischt in ihrem Drehbuch reale mit fiktionalen Charakteren. Die berühmte Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst gehört zu den realen und wird von Meryl Streep sehr differenziert dargestellt, obwohl sie nur einen sehr kurzen Auftritt im Film hat. Maud hingegen ist ein fiktionaler Charakter, und aus ihrer Sicht werden die Stationen der Eskalation von Gewalt angesteuert. Nach einer Demonstration wird Maud verhaftet, der gesellschaftliche Druck ist enorm und veranlasst ihren Mann Sonny, sich von ihr zu distanzieren. Die Presse berichtet gar nicht oder nur einseitig, so dass die Frauen vielfach allein gelassen sind und öffentlich verteufelt werden. Als sie im Gefängnis in den Hungerstreik treten, werden sie brutal zwangsernährt. Maud und ihre Weggefährtinnen kämpfen aber weiter. Anfangs stören sie die öffentliche Ordnung, indem sie Briefkästen sprengen und Telegrafenleitungen kappen, dann aber kommt es zu ersten Bombenanschlägen auf unbewohnte Gebäude. Eines Tages steht Maud vor ihrer Haustür und muss erleben, wie ihr geliebter Sohn von Adoptiveltern abgeholt wird. Als Frau und Mutter hat sie keinen Rechtsanspruch auf ihr eigenes Kind. Im Kampf um das Wahlrecht sieht Maud am Ende die einzige Hoffnung auf Verbesserungen. Die Aussichten stehen gut, als einige der Frauen, darunter auch Maud, vor einem Ausschuss der Regierung aussagen dürfen. Der liberale Premierminister David Lloyd George (Adrian Schiller) scheint von den Schilderungen der Frauen bewegt zu sein. Trotzdem wird der Antrag auf Frauenwahlrecht wiederum abgelehnt. Die Stimmung wird immer aufgebrachter und eines Tages wird Maud Zeugin einer tragischen Verzweiflungstat.
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Maud (Carey Mulligan) im Gefängnis | © Concorde Filmverleih
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Das schematisierte Skript hat zwar den Nachteil, dass es künstlich wirkt, aber ein fantastisches Ensemble von Schauspielern und Schauspielerinnen haucht den Figuren gekonnt Leben ein. Carey Mulligan hat mit An Education und Am grünen Rand der Welt bewiesen, dass sie als Hauptdarstellerin einen Film tragen kann. Sie verleiht der vom Schicksal gebeutelten Maud Tiefgang und Menschlichkeit. Mauds Arbeitskollegin Violet ist der Prototyp der radikalisierten Arbeiterin. Ihr Ehemann ist Alkoholiker und schlägt sie. Auf der Arbeit wird ihre 12jährige Tochter vom Boss sexuell bedrängt. Marie-Anne Duff spielt Violet mit einer Kreatürlichkeit, die Gänsehaut verleiht. Auch in den höheren Gesellschaftsschichten können Frauen ihr Potenzial nicht ausleben. Helena Bonham-Carter glänzt als frustrierte Apothekerin Edith Ellyn, die die Begabung zu einer guten Ärztin gehabt hätte. Das Studium wurde ihr aber versagt. Im Hinterzimmer der Apotheke ihres Mannes finden die Treffen der Frauenrechtlerinnen statt. Bonham-Carter (die böse Hexe Bellatrix aus den Harry-Potter-Verfilmungen) überzeugt durch Selbstironie und einen Hauch Ruchlosigkeit. Leider kommt die Figur der Alice (Romola Garai) viel zu kurz. Sie stammt aus der Oberschicht, ist gebildet und Frauenrechtlerin aus Überzeugung. Es sind genau diese Frauen, die einen wesentlichen Einfluss auf die Bewegung hatten.
Historisch verbürgt, aber gerne heruntergespielt, ist die Rolle der Männer für die Frauenbewegung. Finbar Lynch spielt stellvertretend für diese Gruppe den Apotheker Hugh Ellyn, der die Frauen unterstützt und deckt. Auch der Ordnungshüter Inspektor Arthur Steed ist von seiner inneren Überzeugung her eher auf der Seite Frauen, aber er hat die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Brendan Gleeson spielt die zerrissene Persönlichkeit des Inspektors einfach grandios. Äußerlich ruhig, doch mit viel innerer Anspannung stellt er den Polizisten dar, der die Frauen überwachen, verhaften und manipulieren muss. Ganz anders ist da Mauds Ehemann Sonny, der von Ben Whishaw als liebevoller und beschützender Ehemann und Vater und später als angstbesetzter Schwächling gespielt wird. Er ist die obrigkeitstreue Variante der Gattung. Sein Söhnchen muss abends dem Foto vom König gute Nacht sagen, er arbeitet für einen Boss, der sich an seiner Frau vergangen hat, und beugt sich willfährig dem System. Daran mögen mangelnde Bildung und das soziale Elend einen großen Beitrag leisten. Dann ist natürlich der Ausbeuter, Unterdrücker und Vergewaltiger Taylor, der in seiner ganzen machtbesessenen Erbärmlichkeit von Geoff Bell dargestellt wird. Vermutlich hat seine Spezies unterm Strich mehr für die Frauenbewegung geleistet als andere, indem er ihre Lage einfach unerträglich machte.
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Suffragette – Taten statt Worte präsentiert auf anschauliche und intensive Art ein wichtiges Stück Zeitgeschichte. Die Geschichte der Suffragetten wurde oft geschönt und die Bombenlegungen vertuscht oder heruntergespielt. Es ist gut, dass dies in seiner Dramatik gezeigt wird. Insbesondere aber durch Maud kann sich der Zuschauer sehr gut in die unhaltbare Situation der Frauen hineinversetzen.
1918, nachdem sich die Frauen während des Ersten Weltkriegs bewährt hatten, indem sie die kriegsabwesenden Männer ersetzen mussten, gab es in Großbritannien ein eingeschränktes Frauenwahlrecht für wenige Privilegierte. Im Jahr 1928 folgte das allgemeine Frauenwahlrecht. In Deutschland sind Frauen seit 1918 wahlberechtigt.
Großbritannien bekam mit Margaret Thatcher 1979 den ersten weiblichen Premier. Seit 2005 ist Angela Merkel die erste Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Leider werden wir nicht erfahren, was die Geschichtsbücher in 100 Jahren darüber schreiben werden.
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Helga Fitzner - 3. Februar 2016 ID 9113
Weitere Infos siehe auch: http://www.suffragette-film.de/home/
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