Nur die Hälfte des Titels trifft auf die orientierungslosen Anti-Helden in dieser ethnografischen Studie zu
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Bewertung:
Die pogromartigen Ausschreitungen von Anwohnern gegen Asylsuchende in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992 waren eine Zäsur innerhalb der deutschen Zivilgesellschaft, deren ehemals getrennte Teile gerade erst im Begriff waren zusammenzuwachsen. Mir ist unvergesslich, wie sich die Gefühle des Erschreckens und der Scham über den prolligen "Ossi-Mob" – dessen Untaten live über die großen TV-Sender mitverfolgt werden konnten – sehr rasch in unbändigen Zorn über die Regierenden verwandelten. Zorn darüber, dass die damalige Kohl-Regierung mit dem Thema Asylpolitik, das Minderheiten, sozial Ausgegrenzte und politisch Stimmlose direkt betraf, aus ideologisch abgestandenen Gründen so lange gezündelt hatte, bis willfährige Krawallmacher die Lunte buchstäblich unter Feuer gesetzt hatten. Bis heute halte ich das für unverzeihlich. Ich weiß noch, wie es mir den Atem verschlug, als ich mir das erste Mal im Leben konkret vorzustellen vermochte, wie es nach 1933 zu Bücherverbrennungen und Menschenjagden kommen konnte – und ähnliche Exzesse auf deutschem Boden wohlmöglich doch möglich sein könnten.
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Wir sind jung. Wir sind stark. | (C) Zorro Film
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Obgleich Todesopfer nicht zu beklagen waren, ragen die Rostocker Krawalle aus dem Sumpf rassistisch und faschistisch motivierter Verbrechen der Nach-Wendezeit heraus. Auch wer sich mit der Erforschung autoritärer Gesellschaften nicht auskennt, bekam damals eine Ahnung davon, was Sozialwissenschaftler am plötzlichen Verlust etablierter Ordnungen und des äußeren politischen und polizeilichen Drucks fürchten: nämlich den Ausbruch unkontrollierter, anarchistischer Kräfte, die zivilisierte Regeln nicht mehr ohne weiteres akzeptieren. Wie im soziologischen Lehrbuch waren auf dem Gebiet der DDR Opfer von allen Arten der Zügellosigkeit zu beklagen: Dazu zählen die vielen Verkehrstoten in den Brandenburger Alleen (ein überproportionaler Anteil an Verkehrstoten ist oft eine Folge nach dem Zusammenbruch autoritärer Strukturen) ebenso wie neonazistische Schandtaten in ländlichen Regionen.
Insofern ist der Ansatz des deutschen Regisseurs Burhan Qurbani, sich den damaligen Protagonisten und Geschehnissen – übrigens erstmals in Form eines Spielfilms – so tabu- und vorurteilsfreie anzunähern wie ein Ethnologe genau der richtige Ansatz. Denn das schiere Beobachten und Dabeisein, wie sich eine junge Freundesclique immer mehr zu sinnfreien, gewaltbereiten Aktionen hinreißen lässt, nimmt dem Zuschauer nicht das Nachdenken und Hinterfragen ab: Warum? Und warum dort? Qurbani illustriert anhand seiner rebellischen Figuren eine Welt in einem politischen Vakuum, in der die versprochenen blühenden Landschaften einfach nicht sprießen wollen. Die Lokalpolitik in Person des opportunistischen Bürgermeisters (Devid Striesow) wird als komplett überfordert geschildert bzw. sieht sich zwischen unterschiedlichen parteipolitischen Interessen zerrieben. Jugendliche, die eigentlich alles, was mit ihren Eltern und dem (vor allem früheren) Staat zu tun hat, vergreifen sich am Ende eines weiteren völlig vergeigten Tages ausgerechnet an den Schwächsten, die ein deutlich härteres Schicksal zu meistern haben als sie selbst.
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Wir sind jung. Wir sind stark. | (C) Zorro Film
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Aber Fascho- und Machogehabe, die schiere Lust an der Gewalt als ultimativem Provokationsmittel gelten bei den Jugendlichen als chic und bedeutsam in einer Gesellschaft, deren einstige (sozialistisch-progressive) Bedeutsamkeit komplett verlustig gegangen ist – Clockwerk Orange lässt grüßen. Es ist eine enorme Leistung, dass Qurbanis zentrale Figuren eher wie allein gelassene Waisenkinder wirken, die sich noch nicht einmal trauen, wahre Gefühle zu zeigen und ihre Bedürfnisse und Enttäuschungen zu reflektieren. Nur am Rande spielen überzeugte Rassisten und Rechtsradikale eine Rolle, die zudem mit ihrer prolligen Art nicht einmal viel Überzeugungskraft entfalten. Aber sie können auf das Wohlwollen der dumpfen Masse bauen, weil sie als gewaltbereite Rädelsführer "denen da oben", die weit weg zu sein scheinen und zu unentschlossen sind, mal zeigen können, was eine Harke ist. Das Versagen moralischer wie auch politischer Institutionen macht Qurbani in jeder einzelnen Szene greifbar, sodass er plakative und stereotype Erklärungen gar nicht nötig hat.
Einen so feinnervigen und ausdifferenziert erzählten Film, der mit nur wenigen verbürgten Fakten ein so großes Maß an Authentizität zu Tage fördert, findet man in Deutschland äußerst selten. Sein Wert wird gewiss im Laufe der Zeit noch steigen, denn die nächsten Pegida- und Anti-Pegida-Demos laufen bereits. Sein Thema, warum Menschen sich zu billiger Propaganda hinreissen lassen, ist unerwartet aktuell geblieben.
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Wir sind jung. Wir sind stark. | (C) Zorro Film
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Max-Peter Heyne - 27. Januar 2015 ID 8395
Weitere Infos siehe auch: http://jungundstark.de/
Post an Max-Peter Heyne
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