Als Buch ist Wolkenatlas bisweilen ein Vergnügen - als Film hingegen eine Anstrengung
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Wolkenatlas im Schnittgewitter
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Ob der mit immensem Aufwand gedrehte, deutsch-amerikanische Kinofilm Wolkenatlas sein 100 Millionen-Dollar-Budget wert war, werden die Produzenten – darunter die Berliner Firma X-Filme (Goodbye, Lenin; Lola rennt; Das weiße Band) – in einigen Monaten nach Auszählung der weltweiten Ticketverkäufe bilanzieren können. Im Moment scheint eine Rentabilität zumindest nicht ausgeschlossen. Ob es gelungen ist, den als unverfilmbar geltenden Roman David Mitchells in Bilder zu übertragen, lässt sich schon jetzt beantworten: Das Beispiel Wolkenatlas zeigt, dass im Prinzip jeder Roman verfilmt werden kann – es aber nicht immer sinnvoll ist.
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Tom Tykwer, Lana und Andy Wachowski (v. l. n. r.), die Regisseure vom Wolkenatlas - Foto © Jay Maidment / Warner Bros.
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Die mit ihrer Matrix-Trilogie berühmt gewordenen Geschwister Andy & Lana Wachowski und der Deutsche Tom Tykwer (Das Parfum) gelten als Garanten für effektvolle und geistig anregende Unterhaltung. Für ihr Gemeinschaftsprojekt haben sie eine Romanvorlage ausgesucht, die einen großen erzählerischen Bogen über fünf Jahrhunderte schlägt und viele, existentielle Themen und Konflikte der Menschheit anspricht. Doch wo das Buch bei aller Fabulierlust einer strengen erzählerischen Struktur folgt, zerbrechen die drei Regisseure diesen Aufbau und verhackstücken das Ganze zu einem ständigen Hin und Her. Das wäre im Grunde vertretbar und sogar von Vorteil, wenn die Handlungsstränge dramaturgisch, visuell und musikalisch elegant miteinander verwoben wären. Doch die sechs Stories um Liebe, Eifersucht, Macht und Ohnmacht ergänzen sich nicht sinnvoll, sondern liegen quasi wie Puzzlestücke nebeneinander, ohne ein Gesamtbild zu ergeben. Die Leitidee des Romans, wonach Schicksale auch über lange Zeiträume und Entfernungen hinweg miteinander verbunden sind, löst der Film hauptsächlich über den Einsatz der immer selben Schauspieler ein.
Mitchells Buch ist ein Experiment: Wie sehr kann ich Geschichten und Figuren miteinander in Beziehung setzen, ohne dass sie sich in einer Epoche und an einem Ort treffen würden – mithin eine Reflexion über Seelenverwandtschaft, Liebessehnsüchte, Freund- und Feindschaften, die beständig die Zeiten überdauern, während Neid, Egoismus, Unterdrückung und Machtmissbrauch als destruktive menschliche Energien das ihre dazu tun, um die Welt im Innersten zu zersetzen. Das kann man auch anhand von drei Geschichten schildern – das wäre sogar eine zwingende statt zerfasernde Variante. Aber gut: schöne Bilder gibt es zu sehen, vom Piratenfilm über den Politthriller bis zur Science-Fiction wird alles abgeklappert. Ausgerechnet die Geschichte um eine künstliche Frau, die in einer zukünftigen Dystopie (à!) ein bescheidendes Dasein als Arbeitsroboter fristet, berührt wegen seiner klaren Stellungnahme zu freiheitlichen Bürgerrechten am stärksten. Und dann ist da ja noch Halle Berry – sie lebe hoch.
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Halle Berry in Wolkenatlas - Foto © Jay Maidment / Warner Bros.
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Detlev Buck hat in seiner Literaturverfilmung Die Vermessung der Welt durch die Komprimierung auf einen 90-Minuten-Film auf viele Nuancen verzichten müssen, die Daniel Kehlmanns Vorlage auszeichnet. Aber Buck hat zwei verschiedene Lebensschicksale bildlich raffiniert miteinander verschränkt: einmal schlicht dadurch, dass er das Bild teilt und auf den Kopf dreht, so als agierten die Wissenschaftler Carl Gauß und Alexander von Humboldt auf den Welthalbkugeln genau gegenüber. In Wolkenatlas gibt es nur zweimal in fast drei Stunden etwas anderes als bloße Schnitte zwischen den Szenen. Indem der Film die Komplexität des Romans noch steigert statt sie zu reduzieren – was mit dem Verzicht auf einige der Stories möglich gewesen wäre –, gaukelt er mehr Substanz vor als er de facto hat. Dabei hat er vor allem dasselbe Problem wie einige andere kürzlich im Kino gestartete Literaturverfilmungen – allen voran Walter Salles‘ nach endlosen Versuchen gedrehte Version des von Jack Kerouac 1951 geschriebenen US-Kultbuchs On the Road: Sie gibt zwar die Handlung des Romans wieder, aber „nicht das Wesentliche, das es zu erhalten gilt: den Geist des Buches“, wie der österreichischer Schriftsteller Thomas Glavinic anmahnt. Auch dieser Film, von Francis Ford Coppola mitproduziert, ist überlang und schadet zwar nicht dem Zuschauer, wohl aber der Vorlage.
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Tom Hanks in Wolkenatlas - Foto © Warner Bros. France
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Ob ein Werk im subjektiven Stakkato-Stil geschrieben ist wie On the Road oder variantenreich und ausschweifend wie Wolkenatlas – um die sprachliche Dimension in Bilder zu übersetzen, muss „ein Film versuchen, der Film zu sein und nichts anderes“, sagt Glavinic, d. h. sich deutlich von den Buchstaben des Buches lösen. Das gelingt Wolkenatlas nur im Ansatz. Im Grunde aber sollte der mutmaßlich kostspieligste deutsche Film aller Zeiten (in absoluten Zahlen) weniger als eine besonders teure Literaturverfilmung bewertet werden. Stattdessen ähnelt der Film anderen Megaprojekten wie Twilight, Batman oder Harry Potter, die allesamt Unternehmungen sind, der Konkurrenz anderer Bildmedien etwas entgegenzusetzen. Die sprunghafte Struktur von Wolkenatlas lässt sich gerade noch auf einer großen Leinwand erfassen. Dies aber drei Stunden lang im Internet oder auf Mobilgeräten versuchen zu wollen, gliche einer Folter. Auch das Fernsehen ist der falsche Platz: Jeder Werbeblock wäre nicht nur eine lästige Unterbrechung, sondern eine brutale Verwirrung, die sich zu jener summiert, die der Film selbst mitliefert. Das immerhin ist Tykwer und Co trotz aller Schwächen gelungen: Wolkenatlas lässt sich einzig und ausschließlich im Kino goutieren.
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Max-Peter Heyne - 8. November 2012 ID 00000006334
David Mitchells Wolkenatlas, Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (je 9,99 €) und das Buch zum Film von Kehlmann, Detlev Buck u. a. (12,99 €) sind im Rowohlt Taschenbuchverlag erschienen.
Weitere Infos siehe auch: http://www.cloudatlas-derfilm.de/
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