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Dokumentarfilm


Filmstart: 14. Juni 2012

„Die Wohnung“ (Deutschland, Israel 2011)

Regie: Arnon Goldfinger



"Eine deutsch-jüdische Geschichte, die noch nie erzählt wurde“

70 Jahre lang hat Gerda Tuchler in ihrer letzten Wohnung gelebt. Nun ist sie im Alter von 98 Jahren gestorben, und ihre Nachgeborenen lösen die Wohnung auf. Das ist erst einmal so unscheinbar wie der Titel der Dokumentation selbst. Gerda Tuchlers Einrichtung ist die perfekte Abbildung einer Berliner Wohnung, nur - dass sie sich mitten in Tel Aviv befindet. 84 Handtaschen, 104 Schals, 92 Paar Handschuhe sind die normalen Fundstücke einer solchen Haushaltsauflösung. Das wäre noch kein ausreichendes Thema für eine Kinodokumentation, wenn der Enkel und Filmemacher Arnon Goldfinger nicht einen ungewöhnlichen Fund gemacht hätte: zwölf Ausgaben der Nazi-Propaganda-Zeitung „Der Angriff“ von 1935 mit der Artikelserie „Ein Nazi fährt nach Palästina“. Der SS-Mann Leopold Edler von Mildenstein und seine Frau bereisten in den 1930er Jahren Palästina, um für die Nationalsozialisten zu klären, ob hier eine Antwort auf die Judenfrage in Deutschland zu finden wäre. Den deutschen Juden sollte eine Auswanderung nach Palästina und die Hoffnung auf einen Judenstaat schmackhaft gemacht werden. Was Arnon Goldfinger dann völlig überrascht, dass die von Mildenstein von einem Ehepaar begleitet wurden: Gerda und Kurt Tuchler, seinen Großeltern, die Zionisten waren. Was hatte das jüdische Ehepaar mit einem SS-Mann zu tun? Das Foto in Arnons Händen gibt keinen Hinweis darauf. Die vier Personen darauf sehen aus wie zwei ganz normale befreundete Ehepaare.

Nach anfänglichem Zögern begibt sich Arnon Goldfingers Mutter Hannah mit ihm auf Spurensuche. Doch je tiefer sie in die Materie vordringen, umso Entsetzlicheres finden sie heraus. Von Mildenstein war der Vorgänger Adolf Eichmanns, der im Dritten Reich für die Vertreibung und Tötung der europäischen Juden verantwortlich war. Eichmann wurde 1960 gefangen genommen und 1962 nach langem Prozess in Israel zum Tode verurteilt. Filmemacher Goldfinger zeigt Filmausschnitte daraus, wie Eichmann von Mildensteins Namen als seinen Vorgänger erwähnt. Von Mildenstein war also eine einflussreiche NS-Größe. Laut Eichmann hätten er und von Mildenstein allerdings die Auswanderung von Juden nach Palästina dem Massenmord vorgezogen.

Das ist kein Trost für Arnon und Hannah Goldfinger, die sich bislang mit der Familiengeschichte nicht auseinandergesetzt haben. Um so härter trifft es sie, als sie herausfinden, dass Gerda und Kurt Tuchler auch nach dem Krieg und dem Holocaust Kontakt zueinander hielten, sich sogar besuchten. Ihnen ist völlig unverständlich, dass die Eltern bzw. Großeltern eine solche „Freundschaft“ aufrecht erhielten. Das lässt ihnen keine Ruhe. Sie finden heraus, dass die von Mildensteins eine Tochter haben, die in Wuppertal lebt. Arnon Goldfinger ruft auf gut Glück an. Die Frau am anderen Ende der Leitung spricht fließend Englisch und, ja - sie ist die Tochter von Leopold von Mildenstein. Das Gespräch ist offen und herzlich, die Goldfingers werden nach Wuppertal eingeladen.




Arnon Goldfinger und Edda Milz von Mildenstein recherchieren ihre Familiengeschichte © Edition Salzgeber



Hannah Goldfinger stellt fest, dass sie ihre Eltern nie nach der Vergangenheit gefragt hat. Die Entscheidung, jetzt endlich den Ereignissen nachzugehen, kostet sie viel Überwindung, die sie äußerlich mit großer Ruhe trägt. Ihr Sohn Arnon versteht das Schweigen nicht, aber auch sein Verhältnis zur Großmutter war seltsam. Sie sprach kein Hebräisch und er kein Deutsch. Oma und Enkel verständigten sich auf Englisch.

Bei den von Mildensteins in Wuppertal angekommen, ist die Aufnahme herzlich. Von Mildensteins Tochter Edda ist der festen Überzeugung, dass ihr Vater zwar eine hohe Funktion in der NSDAP gehabt hat, da er aber im Ausland tätig war, keine Schuld auf sich geladen hat. Sie selbst hat 30 Jahre lang in England gelebt (und damit auch 30 Jahre deutsche Vergangenheitsbewältigung verpasst). Beide Familien stellen fest, dass sehr viel geschwiegen wurde und auch sehr wenig gefragt.

Die Goldfingers besuchen auch in Berlin lebende Verwandte. Dort erfahren sie mehr über ihren Stammbaum. Sie sind über Susanne Lehmann, die Mutter von Gerda Tuchler, miteinander verwandt. Jene Susanne Lehmann ist nach Riga deportiert worden und kam dort ums Leben. Arnon Goldfingers Urgroßmutter wurde also von den Nazis ermordet, und er hatte vorher nie davon gehört. Verstört steht er vor ihrem Stolperstein, den ein Cousin von ihm an der Stelle anbringen ließ, wo früher Susanne Lehmann Wohnhaus in Berlin stand. Hatten seine Großeltern von der Deportation gewusst? Wäre ihre Freundschaft zu den von Mildenstein stark genug gewesen, um das zu verhindern? Haben oder hätten sie überhaupt gefragt? – Es ist zu spät. Die Fragen lassen sich nicht mehr beantworten, weil niemand rechtzeitig gefragt hat.



Vergeblich auf Gräbersuche: Arnon Goldfinger und seine Mutter Hannah © Edition Salzgeber



Obwohl es eine sehr persönliche Familiengeschichte ist, steht Die Wohnung auch stellvertretend für die dritte Generation nach dem Holocaust, die anfängt zu fragen. Arnon Goldfinger legt die Hand auf eine tiefe Wunde, die immer noch der Heilung bedarf. Er ist einer von 12 Enkeln und 29 Urenkeln, die Gerda Tuchler hinterließ. Seine Großmutter ist eine ihm Unbekannte geblieben oder durch die Recherche erst geworden. Niemand kann ermessen, ob Gerda Tuchler ihr Heimweh nach Berlin in ihrer Tel Aviver Wohnung ertragen konnte. Die hebräische Sprache und das Land Israel sind wiederum ihr unbekannt geblieben. War die Nachkriegsfreundschaft zu den von Mildensteins von einer traumatische Ausblendung begleitet oder der fast übermenschliche Akt einer Versöhnung? Viele Fragen werden unbeantwortet bleiben, doch nun kann ein Gedenken an die ermordete Urgroßmutter stattfinden und damit eines Tages vielleicht das persönliche Überwinden des kollektiven Traumas. Und Arnon Goldfinger zeigt sehr sensibel auf, dass das Täter-Trauma der Deutschen ein paar Ähnlichkeiten mit dem Opfer-Trauma der europäischen Juden aufweist. Zwei Seiten der selben Medaille, die in dieser Dokumentation von beiden Seiten zumindest begonnen wird aufzuarbeiten.

Neben vielen internationalen Preisen erhielt Die Wohnung den Bayerischen Filmpreis als bester Dokumentarfilm.


Helga Fitzner - 24. Juni 2012
ID 00000006052

Weitere Infos siehe auch: http://www.die-wohnung-film.de


Post an Helga Fitzner



 

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