Ausschnitte: Berlinale 2011
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!Women Art Revolution, Les femmes du 6ème étage, Vampire
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!Women Art Revolution
Die Künstlerin und Filmemacherin Lynn Hershman Leeson (zuletzt 2007 auf der Berlinale mit dem aufdeckerischen Doku-Drama „Strange Culture“) zeigt in ihrem neuesten Werk, wie die Männerdomäne „Kunst“ in den Siebziger Jahren durch das „Feminist Art Movement“ langsam aufgebrochen wurde. An ihrem Dokumentarfilm hat Leeson über 40 Jahre lang gearbeitet und das hat sich gelohnt: Viele hundert Stunden Gespräche und Interviews mit FreundInnen, KollegInnen, KunsthistorikerInnen und KritikerInnen hat sie zu dieser Dokumentation verdichtet, um die prägende Kunstbewegung des 20. Jahrhunderts darzustellen. Es haben sich damals wie heute engagiert und kommen zu Wort: Judy Chicago, Yoko Ono, Yvonne Rainer oder Miranda July (u. v. m.) - letztere ist mit dem Spielfilm „The Future“ selbst bei der diesjährigen Berlinale im Wettbewerb vertreten ist.
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Les femmes du 6ème étage
Wofür diese Frauen vor rund 40 Jahren gekämpft haben, bleibt fraglich, wendet man sich einem anderen Berlinale-Film im Wettbewerb (außer Konkurrenz) zu. Eigentlich war der Plan meiner Kollegin und mir, sich von einem vermeintlich französischen Feel-Good-Movie zwischen manch harter Berlinale-Kost einfach nur bezaubern zu lassen. Denn die schaffen das ja bekanntlich mit Leichtigkeit, die Franzosen.
Vielversprechend klang ob so einer Erwartungshaltung auch Cast und Plot von Philippe Le Guays („Nachtschicht“) neuem Spielfilm „Les femmes du 6ème étage“: Jean-Luis (solide: Fabrice Luchini), bourgeoiser Börsenmakler, entdeckt in seinem eigenen Haus eine ihm bisher unbekannte Welt, als das Dienstmädchen Maria (Natalia Verbeke) bei ihm und seiner Frau zu arbeiten beginnt. Durch Zufall betritt er nämlich zum ersten Mal seit langer Zeit das 6. Stockwerk seines Hauses, dem Ort, an dem die Dienstmädchen ihr Dasein fristen. Von der trotz ihrer Armut schlichten Lebensfreude der Damen angesteckt, beginnt er nach und nach vermehrt deren Gesellschaft zu suchen, insbesondere die pragmatische Maria hat es ihm angetan.
Dies könnte der Anfang vieler charmanter wie unkonventioneller Geschichten sein, die Filmemacher haben sich jedoch für eine vor Klischees nur so strotzende Variante entschieden. Bezeichnend eine frühe Szene: Die neue Hausangestellte gewinnt das Herz des Dienstherrn damit, dass sie sein Frühstücksei im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin exakt seinen Vorstellungen entsprechend zu köcheln weiß, sonst wäre ihm nämlich der ganze Tag versaut, wie er sie wissen lässt. Und so galoppiert der Film dahin, von einer plumpen wie biederen Männerfantasie zur nächsten. Maria bezierzt durch Strebsamkeit und Arbeitswillen, zugleich ist sie von festem Charakter und schöner Gestalt. Nicht zu vergessen bereits oben erwähnte Lebensfreude, denn obwohl ihr das Schickal schon einige Mühen bereitet hat, ist sie zumeist gut drauf. Sogar die in Gedanken längst betrogene Gattin (Sandrine Kiberlain), von ihrem Dasein selbst gelangweilt, muss zugeben: Wir alle bräuchten einen 6. Stock (voller armer, aber lebensfroher Menschen) in unserem Haus!
Zum Schluss steht Maria als strahlende Siegerin da: Auf einem Hügel vor triumphierend flatternder Wäsche und forsch den Korb unterm Arm, empfängt sie im fernen Spanien noch drei Jahre später besagten Hausherrn mit einem lebensfrohen Lächeln, der gedenkt, sich nun den Rest seines Lebens das Ei von ihr köcheln, und wahrscheinlich baldigst auch den Löffel zum Mund führen zu lassen (er ist geschätzte dreißig Jahre älter als die Auserwählte).
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Vampire
Nach diesem kleinen Ärgernis nun zu einem Film, der zwar „Vampire“ heißt, aber bei Weitem nichts mit den zur Zeit so modernen Hochglanz-Formaten des filmischen Vampirgenre á la „Twilight“ zu tun. Reich an Subtexten widmet sich das Drama des japanischen Regisseurs Shunji Iwai („All about Lily Chou-Chou“, „Swallowtail Butterfly“) vielmehr anhand des Charakterporträts eines nerdigen Endzwanzigers vermenschlichten Formen des Blutsauger-Habitus. Denn der schüchterne wie sympathisch wirkende Biologielehrer Simon (Kevin Zeger) benimmt sich wie ein Vampir. Nach außen den bürgerlichen Schein wahrend, frönt er einer abstrusen Passion. Er treibt sich im Internet in einschlägigen Chats herum, um jugendliche Selbstmöderinnen kennenzulernen. Diesen ist er beim Suizid behilflich, um an ihr Blut zu kommen. Den geraubten Lebenssaft trinkt er dann (obwohl er ihm gar nicht bekommt). Ungewöhnlich an seiner Lebensart ist ebenso, wie er seine psychisch kranke Mutter (großartig: Amanda Plummer, bekannt als „Honey Bunny“ aus „Pulp Fiction“) pflegt: Er bindet ihr Heliumballons auf den Rücken, vordergründig, um ihr durch den Auftrieb das Gehen und Sitzen zu erleichtern. Bedingt durch die Größe der Ballons kann diese jedoch ohne sein Wissen nicht einmal das Zimmer verlassen. Ein äußerst beschränkter Lebensraum für eine kranke Frau, deren merkwürdiger Sohnemann den ganzen Tag nicht zuhause ist.
Vordergründig gut sind dabei Simons Taten, berauben aber bei näherem Hinsehen andere – bis zum Tod – ihrer Lebensfreude und -energie. Simon ist auch im übertragenen Sinne somit durch und durch ein Blutsauger. Er verspricht zwar Hilfe und Erlösung, profitiert aber von der Schwäche und dem Leid der anderen, saugt diese ergo aus. Folgt man den Dialogen, ist es oft zum Verzweifeln, dass die scheinbaren Selbstmordkandidatinnen offensichtlich nur den richtigen Gesprächspartner bräuchten, um von ihrem Sterbewunsch abzukommen. Der sanfte Simon, der Brutalität vordergründig ablehnt aber bestärkt sie, äußerst subtil zwar, jedoch stetig in ihrem Vorhaben. Erst zu einem recht späten Zeitpunkt des Films hat Simon einen Aha-Moment: „Würde ich diesen Menschen nicht helfen, wenn ich normal wäre?“
„Vampire“ ist der erste von Shunji in den USA produzierte Film. Und das lässt diesen zuerst nicht nur gewollt befremdlich erscheinen. Fehl am Platz wirken nämlich manche Szenen – eine Mutter, die an weißen Heliumballons schwebt, das zärtlich gefilmte Ausbluten-lassen von jungen Frauen auf Gefriertruhen aus der Vogelperspektive – bis man merkt: Im asiatischen Kino, hätte man für diese Form skuriler Bildsprache die richtige Erwartungshaltung bereits mitgebracht. Lässt man sich darauf ein, funktioniert diese aber auch mit amerikanischen Charakteren und dazugehörigem Setting. Ein außergewöhnlicher, traumartiger Film, dessen Qualität sich auch dadurch zeigt, dass er wahrscheinlich viele weitere Lesarten ermöglicht, die sich von der hier beschriebenen erheblich unterscheiden.
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fs / 15. februar 2011 ID 00000005065
Weitere Infos siehe auch: http://www.berlinale.de
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