Madrid. Madrid. und Pandemia
von Gerardo Aparicio
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Die Sozialkritik des Engländers Hogarth, die sprechenden Bilder von Goya, Boschs Fabelwesen und John Heartfields Satire bishin zu Leonardos fliegenden Unendlichkeitsmaschinen vereinen sich in seinem so individuellen, unverkennbaren Stil: Gerardo Aparicio ist ein Reisender im Geiste, ein Chronist, ein positiver Schwarzseher, der mit Exkursen in die Vergangenheit eine unsichere Zukunft voraussagt oder die Gegenwart anklagt. Aparicio lässt den Betrachter sein Kleinvieh-Bestiarium betreten und vermittelt Verletzbarkeit, Langsamkeit, Ungerechtigkeit und Zurückgezogenheit.
All seine grafischen Arbeiten tragen einen Titel, und die lauten in etwas Alma Perdida (verlorene Seele), mesa doliente (schmerzender Tisch), Danza de corrupción (Tanz der Korruption) oder Palabras (Wörter). Bei letzterem handelt es sich um einen Trichter, aus dem Nägel (Wörter) fliegen. Den Trichter haben sich in der Bruegel-Welt die von Gott Abgewandten oder Betrüger über den Kopf gestülpt.
2020 wird mein jährlicher Besuch in seinem Madrider Atelier coronabedingt wohl ausfallen müssen. Spanien, v.a. die fantastische Hauptstadt Madrid, gehört zu den am meisten betroffenen Regionen weltweit, und das Corona-Virus hat nun auch seine Malerei erreicht. Seit ein paar Wochen dreht sich Aparicios Kunst nicht mehr um Tägliches oder Politik, sondern um Angst, Ansteckung, Leid, Flucht, Tod. Über WhatsApp hält er seine Fans und Freunde mit Fotos seiner neuesten Arbeiten auf dem Laufenden. Die zwei Zeichnungen, die wir hier sehen, sind gerade mal zwei oder drei Tage alt und haben das Atelier bis jetzt nur virtuell verlassen. Aparicio malt in seinen geliebten cuadernos (Kladden) mit den Ausmaßen 30 x 40 cm; die Serie ist Teil der Aufarbeitung mit einer weltweiten Tragödie sowie sein Ausdruck über die desaströse Corona-Situation in seinem Heimatland Spanien:
In der Zeichnung Madrid. Madrid. hat sich die Erde gespalten. Ein brennendes Haus steht mitten auf dem dunklen Graben und wackelt. Es ist eine Leichenhalle oder ein provisorisches, schnell aufgebautes Krankenhaus für die schweren Fälle. Links und rechts neben der größer werdenden Erdspalte liegen übereinander gestapelte, halb bedeckte Körper. Man sieht nur die Beine der Toten.
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Gerardo Aparicio, Madrid. Madrid. (2020), 30x40 cm | © Gerardo Aparicio
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Gerardo Aparicio, Pandemia (2020), 30x40 cm | © Gerardo Aparicio
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Die zweite Zeichnung äußert eine brutale Abwehrhaltung. Eine dunkle, gesichtslose Person rollt in Pandemia auf einem Brett aus einer einfachen Hütte. Sie ist bereit, ihren Platz mit allen Mitteln zu verteidigen und bewegt sich mit abwehrenden Box-Bewegungen auf eine ankommende zweite, identische Person zu, die zurückweicht. Die Hütte ist ein Grenzposten vor einem Zaum. Im Hintergrund sind Berge. Anzeichen einer Zivilisation sieht man nirgends. Die Straße ist zum Feind geworden.
Aparicios Vorbild ist sein Landsmann Goya. Auch bei Letzterem hatten die Radierungen und Zeichnungen eine Über- oder Unterschrift wie: Wenn die Vernunft einschläft, dann erwachen die Dämonen. Bei Aparicio sind die Botschaften manchmal schwierig zu entschlüsseln, und man versteht nicht gleich die gesellschaftlichen Zwänge, denen er 15 Jahre als Künstler im düsteren Franco-Regime auf der katholischen Halbinsel unterlag. Das Wörterbuch der Tyrannei besteht aus drei Holzkisten mit je einer Serie von kolorierten DIN-A-3 Radierungen, deren Motive an Gregor Samsa erinnern. Nach einer Ausstellung 1978 in einer Pariser Galerie sind sie verschwunden. Durch einen dieser Zufälle, die das Leben manchmal für uns bereithält, kamen diese Kisten 2010 über einen französischen Künstler in Paris zu mir, und ich habe sie nach Madrid zurückgebracht.
In den letzten Jahren hat Aparicio immer mehr auch großformatige Ölbilder gemalt. Sehr interessant ist eine andere Komponente in seinem Werk, nämlich seine dreidimensionalen Arbeiten aus Holz wie seine Hommage an Leonardo, mit den maquetas voladores (Flugmodellbauten), die in seinem Wohnzimmer schweben.
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Christa Blenk - 18. April 2020 ID 12169
Gerardo Aparicio wurde 1943 in Madrid geboren. Dort hatte er studiert - und dort, im Barrio Salamanca, lebt und arbeitet er in einem Atelier, das einer Wunderkammer gleicht und aussieht wie ein großes Werk von ihm.
Zur HP des Künstlers: https://gerardoaparicio43.wordpress.com/
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