Wie
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Im Oktober 2016 wurde in Berlin-Neukölln das KINDL - Zentrum für zeitgenössische Kunst (in der ehemaligen Kindl-Bauerei) eröffnet. Auf 5.500 Quadratmeter insgesamt sollen dort in Zukunft neue Ideen und zeitgenössischen Kunst- und Kulturevents konzipiert und gezeigt werden.
Kurator ist der Schweizer Andreas Fiedler; er will sein Haus im "Dreiklang" führen, d.h. es soll dort jeweils drei unterschiedliche Ausstellungen geben: eine ortsspezifische Installation im Kesselhaus, eine thematische Gruppenausstellung und eine individuelle Schau im Maschinenhaus 1 und 2.
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Saalansicht; Maschinenhaus M1 und M2 – Eberhard Havekost / Foto: Christa Blenk
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Den prominentesten Platz, nämlich zwei Etagen im Maschinenhaus, belegt der Dresdner Maler Eberhard Havekost (1967). Er gehört zu den bekannteren deutschen Künstlern seiner Generation. In der Ausstellung werden Werke der letzten zehn Jahre gezeigt, was für den Besucher einem Streifzug durch fast alle Malstile der letzten Jahrzehnte gleichkommt. Schonungslos und ohne Berührungsängste referiert er über Rothkos harmonische Farbflächen, Lichtensteins Pop-Lippen, O’Keefes beunruhigende Blumen (wie Poison, 2014), Cesars Schrotthaufen (Transformers, 2014) und Lledós Neo-Minimalismus. Was will er, worum geht es ihm? Auf jeden Fall will er nicht auf einen Stil festgelegt werden. Er arbeitet mit Hilfe von Fotografie, lässt sich von Werbebildern oder vom Kino inspirieren; das große Gemälde im letzten Saal, Homo Erectus Erectus (2016), berichtet darüber: Es scheint aus einem Neunzehntes-Jahrhundert-Naturkundemuseum ausgeliehen zu sein. Abstraktes und Gegenständliches teilen sich unbarmherzig die großzügigen Räume; und wüsste man nicht, dass es sich um eine Einzelausstellung handelt, würde man permanent auf der Suche nach den Namen der anderen Künstler sein.
Bis 19. Februar 2017 ist die Schau noch zu sehen.
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You are right here right now – Jeppe Hein (2012) / Foto: Christa Blenk
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Die erste thematische Gruppenausstellung How long Is Now, die das Museum eröffnete und die im ersten Stock im Maschinenhaus noch bis 19. Februar 2017 gezeigt wird, befasst sich mit dem ewig zeitlosen Thema der Zeit. Wer wollte nicht schon einmal das Getane, das Gesagte, das Geschehene, das Gelebte oder Nicht-Gelebte rückgängig machen, in den Griff bekommen oder ihm wenigstens entkommen.
„Wir messen nicht nur die Bewegung mittels der Zeit, sondern auch mittels der Bewegung die Zeit und können dies, weil sich beide wechselseitig bestimmen.“ (Aristoteles, Phys. IV 12, 220b 14–16)
Die jungen Künstler aus aller Welt (Philip Akkermann, Anetta Mona Chisa & Lucia Tkavoca, Ceal Floyer, Andrea Geyer, Jeppe Hein, Manfred Pernice, Michael Rakowitz und Uriel Orlow) befassen sich mit der Zeit und mit ihren Begleitern, den Zeitgenossen. Wie lange dauert ein Augenblick? Die Gegenwart ist schon vorbei im Moment, wo wir das Kunstwerk betrachten. Allerdings war dieses Konzept nicht bei allen Exponaten nachvollziehbar. Aber vielleicht war der Moment der Klarheit ja schon wieder vorbei, bevor er in Gedanken gefasst werden konnte?
Vom dänischen Künstler Jeppe Hein (geb. 1974) stammt die Installation You are right here right now (2012). Beobachter, Kunstwerk und Umfeld überlagern sich. Stehen die Betrachter im Raum oder sind sie für einen Moment Teil des Kunstwerkes geworden? Ist es immer noch ein Kunstwerk, auch wenn es gerade nicht fotografiert wird und der Betrachter wieder austritt, um sich im Raum fortzubewegen?
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Anetta Mona Chisa & Lucia Tkacova – Clash (2012/2016) / Foto: Christa Blenk
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Die rumänischen Künstlerinnen Anetta Mona Chisa & Lucia Tkacova haben an die 500 rechteckige Pflastersteine auf dem Boden arrangiert, solche, die in Berlin ständig irgendwo liegen, weil ja überall gebaut wird - aber auch solche, die bei Straßenkämpfen zum Einsatz kommen und zur Waffe werden, deshalb darf der Besucher die Steine in die Hand nehmen; werfen ist nicht gestattet.
Eine Zeitschleife wie in der amerikanischen Komödie Und täglich grüßt das Murmeltier gibt es nur in der Fiktion. Ansonsten geht der Mond auf und die Sonne unter, und der nächste Tag ist gekommen. Die morgendliche Routine, wie das Warten auf das Drei-Minunten-Ei, gehört nach dem Verzehr desselbigen wie der Sonnenuntergang von gestern der Vergangenheit an - mehr noch: Durch gezieltes Starren auf die Uhr schärft es unser Bewusstsein vom Vergänglichen. Eine moderne Vanitas ist 1-25 - eine Installation des pakistanischen Künstlers Ceal Floyer (geb. 1968). Man steht davor und lässt die weißen Zahlen auf schwarzem Grund in unterschiedlichen Zeitabständen vor den Augen vorbeiziehen bis man versteht, dass die Ziffer die Zeit angibt und kennzeichnet, so bleibt die Zahl drei 3 Sekunden lang zu sehen und die Zahl vierundzwanzig 24 Sekunden lang. Beunruhigend und irgendwie erschütternd die akute Beteiligung am Vergehen.
Um Zeit geht es auch außerhalb des Hauptgebäudes. In dem 20 Meter hohen Kesselhaus der ehemaligen Brauerei hat der belgische Videokünstler David Claerbout (geb. 1969) seine Computersimulation Olimpia installiert, die das Berliner Olympiastadion einem tausendjährigen und langsam voranschreitenden Verfall übergibt. Die Besucher liegen auf Knautschsesseln und wohnen für kurze Zeit dem Verrottungsprozess dieses Neo-Kolosseums auf einer Riesenleinwand bei. Es passiert eigentlich nichts, gefühlt bewegt sich das Bild aber trotzdem, visuell ausgelöst durch die aktuellen Wetterveränderungen draußen, die man am rechten Rand der Projektion mitverfolgen kann. Es ist eine Frage der Zeit, und man müsste natürlich viele Stunden, Tage oder Wochen so warten, um an reellen Veränderungen (wie etwa die Schneeschmelze oder wachsendes Gras) teilzunehmen. Claerbout bezieht sich hier auf Ideen des Nazi-Architekten Albert Speer, der in seiner Theorie des Ruinenwerts forderte, dass sich Architektur daran orientieren sollte, wie sie in 1.000 Jahren wirkt – sein Vorbild war das Kolosseum in Rom. Die Schau ist bis Ende Mai 2017 sehen: den Frühlingseintritt kann man also durchaus auch innen mit verfolgen (Hinweis: im Kesselhaus zahlt man keinen Eintritt)!
Übrigens: Das Olympiastadion wurde 1934-36 für die Olympischen Sommerspiele 1936 von Albert Speer in aller Schnelle konzipiert, nachdem die ursprünglichen, lichten, transparenten und glaslastigen Pläne des Architekten Werner March Hitler nicht gefielen. Es fasst 100.000 Zuschauer.
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Wieder auf der Straße angelangt, sind wir erneut mit der Zeit konfrontiert und realisieren intensiver als vor dem Besuch des Museums, was die Zeit in dieser Gegend verändern und tun wird. Das Umfeld des KIND-Zentrums ist work in progress. Baugerüste, traditionelle Bars oder Restaurants, heruntergekommene Häuser und aufgerissene Straßen auf der einen Seite und fast fertige, hochwertige, aber charmelose und kalte Berliner Appartmenthäuser auf der anderen. Ein paar Meter weiter liegen die Neuköllner Oper, der Heimathafen, Kinos und noch mehr Baustellen. Diese Ecke wird in kurzer Zeit für Künstler und Kulturinteressierte ein weiterer place to be werden.
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2011 kaufte das Sammlerehepaar Salome Griard und Burkhard Varnholt die Brauerei mit dem Ziel, daraus ein zeitgenössisches Kunstzentrum zu machen - einem Trend folgend, interessante Industriearchitektur in Museen und Kulturzentren umzuwandeln. Zum Haupthaus gibt es außerdem noch den Turm mit sieben Stockwerken und ein Kesselhaus. Das Sudhaus mit den wunderschön glänzenden Kesseln ist zum Café umfunktioniert. Auch hier wird die Zeit noch so Einiges ändern, verbessern oder verschlechtern.
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Christa Blenk - 11. Januar 2017 ID 9780
Weitere Infos siehe auch: http://www.kindl-berlin.de
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