Kunst
in den Futterställen des ehemaligen Schlachthofs im Ostragehege Dresden
|
|
Seit 11 Jahren gibt es sie nun schon, die OSTRALE in Dresden. Gegründet wurde sie 2007 von den beiden Dresdner Künstlern Andrea Hilger und Mike Salomon in den Futterställen des alten Erlweinschen Schlachthofs im Ostragehege in direkter Nachbarschaft zur Dresdner Messe. Als internationales Zentrum für zeitgenössische Kunst mittlerweile fest etabliert, musste die jährliche Ausstellung nun allerdings um ihr festes Domizil bangen, da die Anfang des 20. Jahrhunderts erbauten Gebäude inzwischen als höchst baufällig gelten und die Genehmigung für den weiteren Betrieb nicht mehr erteilte werden kann. Mit der Stadt hat man sich nach langem Hin und Her schließlich auf ein Sanierungskonzept geeinigt. Da der endgültige Zeitplan noch nicht steht, konnte die nun als Biennale laufende Kunstaustellung in diesem Jahr noch einmal stattfinden. Wenn dann das Areal saniert wird, muss die OSTRALE allerdings in noch zu findende Interimsräume umziehen. Sorge und Hoffnung zugleich. Es bleibt also weiterhin spannend um diese ganz besondere Schau unabhängiger internationaler zeitgenössischer Kunst, die von der Malerei über die Fotografie und Plastik bis hin zu Tanz, Video- und Performancekunst so ziemlich alle Genres abdeckt.
*
Auch in diesem Jahr haben sich die MacherInnen mit 164 eingeladenen Künstler aus 25 Nationen, die insgesamt 1.118 Werke und Werkgruppen präsentieren, wieder einiges vorgenommen. Damit es nicht allzu unübersichtlich wird, gibt es verschiedene Schwerpunkte wie Kunstgeschichte, Zukunft, Identität, Religion oder Krieg und Krise, in die sich die ausgestellten Werke lose einordnen lassen. Dem übergeordnet beschäftigt sich die OSTRALE mit drei weiteren Kernthemen. Mit der Theorie der „Kreativen Klasse“ wird kritisch der Zusammenhang der Aufwertung von Stadtgebieten durch Künstler und Kreative und der einhergehender Gentrifizierung untersucht. Über den „Pilgerweg zur Kunst“ begibt man sich zu urbanen Kunst- und Denkräumen. Mit „re_form & Reformation“ widmet sich auch die OSTRALE dem allgegenwärtigen 500. Reformationsjubiläum und in eigener Sache der Reform von Kunst im Wandel der Zeit sowie alten und neuen Formen der Präsentation.
Die OSTRALE will bewusst keine Verkaufsschau sein, die KünstlerInnen werden seit diesem Jahr ausschließlich von den Kuratoren eingeladen. Den einzelnen Ausstellungsräumen auf dem oberen Heuboden und den darunterliegenden Stallungen sind passend zu den politischen Schwerpunktthemen sinngebende Zitate aus Werken bekannter Schriftsteller und Denker wie Antonin Artaud, Jorge Luis Borges, Charles Bukowski, László F. Földényi, Heinrich Heine, Erich Kästner, Heinrich Mann, Fernando Pessoa oder Leo Tolstoi vorangestellt. Nach einem ausgedehnten Rundgang, für den man sich schon etwas Zeit nehmen sollte, fällt es allerdings schwer eine Art Best of der ausgestellten Werke zu küren. Bei der Fülle an Bildern, Fotografien, Objekten, Installationen und Videoarbeiten wird hier sicher auch jeder die Highlights anders setzen.
* *
Ein wenig düster mutet die Wahl zum Thema Zukunft mit Földényis Kulturgeschichte der Melancholie an. Aber wie es der Autor schon anmerkt: „...ich glaube, dass der Melancholiker dadurch ausgezeichnet ist, dass er sich vor dieser Welt verstecken möchte, er will aber nicht ins Jenseits flüchten, vielmehr ist er vertraut mit einer Geschichte, die verschwiegen und verdrängt wird.“ Man bewegt sich hier vorbei an Peter Makolies Memento-Mori-Sammlung aus Feldstein-Schädeln, träumerischen Zukunftsgemälden von Kerstin Junker und Katrin Königs 6-teiligem Aluminium-Tafelbild santuario (Heiligtum) hin zu Diamante Faraldos umgestürzter Weltkarte A nord del futuro. Alle Gewissheiten sind hier exemplarisch anhand der Auflösung der bekannten Anordnung der Dinge wie Kontinente auf den Kopf gestellt. Die Welt ist aus den Fugen und dichter zusammengerückt.
|
Jean Xavier Renaud, La défaite (Ausschnitt) | Foto (C) Stefan Bock
|
Großes und aktuelles Thema in der Kunst ist nach wie vor die Auseinandersetzung mit der Religion. Hier zeigt die OSTRALE wieder viele KünstlerInnen aus Osteuropa, die diesen Schwerpunkt nahezu dominieren. Aber zunächst begrüßt einen der Anblick von Papst Franziskus auf Jean Xavier Renauds Großgemälde La défaite. Eine in bunten Farben gemalte Allegorie des gesellschaftlichen Scheiterns. Auch Iwona Ogrodzka zeigt in ihrer Mixed-Media-Installation Flight&Church, dass die alte Weltordnung nach dem 11. September 2001 aus dem Gleichgewicht geraten ist. Ikonografisch arbeiten Pawel Napierala mit seinem umgedrehten Kreuzigungsbild und Petro Ryaska mit seinem, orthodoxen Ikonenbildern nachempfundenen Prayer. Franciszek Orłowski lässt in seinem Video SERCE den Ton der Kirchenglocke in Poznań verstummen. Kritisch setzt sich auch Verena Rempel in ihrer Fotocollage Pieta. Die Mareinklage mit dem neuen Gott Mammon auseinander und Stephan Popella zeigt in seinem Pieta-Gemälde das Problem der Gaffer im Handyzeitalter.
|
Arne Kalkbrenner, Sans-papiers | Foto (C) Stefan Bock
|
Krieg und Krise sind da nicht mehr weit. Hier droht Arne Kalkbrenners MPi red borderline, dort bilden in Parastou Forouhars Kopf-Portraits schwarze und weiße Figuren Vexierbilder der Gewalt. Der japanische Pop-Art-Künstler Keiichi Tanaami zeigt in seinem Video Crayon Angel einen Mix aus bunten Animationen und schwarz-weißen Kriegsbildern. In einer Nische des Raums steht Arne Kalkbrenners identitätslose Flüchtlingsgruppe Sans-papiers (Ohne Papiere). Auch der in Berlin lebende chinesische Bildhauer Feng Lu ist mit zwei Werken auf der Ostrale vertreten, die besonders ins Auge fallen. Ebenso bildgewaltig wie ironisch setzt er sich in Believe Me and God Bless You mit der Geschichte von Religion und Kriegszielen auseinander. Die Epoxidharz-Skulptur zeigt eine Kathedrale in einem Elefantenarsch. In Thirteen at Dinner veranstalten politische Persönlichkeiten eine Art Friedenskonferenz. Ihnen gegenüber sitzen farblose, tierköpfige Gestalten.
Mit der Miniatur-Figur Mauerspringer gedenkt der spanische Künstler Fernando Sánchez Castillo in seinem gleichnamigen interaktiven Skulpturenprojekt dem Fall der Berliner Mauer. Einen ganzen avantgardistischen Kunststaat präsentieren schließlich internationale KünstlerInnen mit der NSK (Neue Slowenische Kunst) auf der OSTRALE. In den 1980er Jahren um die slowenische Band Laibach gegründet, hat der NSK-Staat mittlerweile sogar eigene Pässe und erklärt immer wieder temporär bestimmte Areale wie etwa 1993 die Berliner Volksbühne zum künstlerischen Staatsgebiet.
|
Anka Leśniak, Women patRIOTs | Foto (C) Stefan Bock
|
Auch in den unteren Räumen des langgezogenen Gebäudekomplexes der OSTRALE befinden sich einige interessante Einzel- und Gruppenwerke. Direkt dort vor Ort hat Matthias Jackisch seine dem Gemälde Das Floß der Medusa von Théodore Géricault nachempfundene Installation Floß aus Holz, Stroh und Gips geformt. Auch das ein Sinnbild für das fast schon schicksalhafte Versagen der modernen Zivilisation. Mit Emanzipation und Patriotismus von polnischen Frauen beschäftigt sich Anka Leśniak in ihrer Mixed-Media-Installation Women patRIOTs.
In jedem Falle ein Highlight ist die Gestaltung des Ausstellungsraums hinter Tor 1. Der Chemnitzer Fotograf Thomas Kretschel hat hier mit aqua alta(r) eine fast gruftartige Installation gegen die Zerstörung der Lagunen-Stadt Venedig gebaut. Im Vorraum befinden sich zwei sehr starke Video-Arbeiten zum Thema Identität. Die Vj group CUBE zeigt mit Multiperson M den Versuch einer Person sich der Umgebung anzupassen und Sergiy Petlyuk formt mit aneinandergereihten kopflosen Körperprojektionen auf Oberbekleidung einen neuen biomorphen Ketten-Organismus.
|
Stefan Bock - 21. August 2017 ID 10202
Weitere Infos siehe auch: http://www.ostrale.de
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
Ausstellungen
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
AUSSTELLUNGEN
BIENNALEN | KUNSTMESSEN
INTERVIEWS
KULTURSPAZIERGANG
MUSEEN IM CHECK
PORTRÄTS
WERKBETRACHTUNGEN von Christa Blenk
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|