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Ausstellung

Retrospektive einer zu Unrecht in Vergessenheit geratenen surrealistischen Künstlerin und führenden tschechischen Avantgardistin



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Mit der Ausstellung TOYEN, Pseudonym der tschechischen surrealistischen Malerin, Zeichnerin und Grafikerin Marie Čermínová (1902-1980), setzt die Hamburger Kunsthalle die 2017 mit der Retrospektive der Hamburger Malerin Anita Rée begonnene Vorstellung in Vergessenheit geratener Künstlerinnen der klassischen Moderne fort. Die Toyen-Retrospektive setzt außerdem einen Fokus auf das nicht unerhebliche Schaffen der tschechischen Avantgarde in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Toyen war Mitbegründerin der Surrealisten-Gruppe der ehemaligen Tschechoslowakei und unterhielt zeitlebens enge freundschaftliche Beziehungen zu André Breton, dem Verfasser des Surrealistischen Manifests. Eine Frau, die sich in einer von Männern dominierten Künstlerbewegung zu behaupten wusste und von den 1920er Jahren bis kurz vor ihrem Tod ein umfangreiches Werk in verschiedensten experimentellen Kunstrichtungen geschaffen hat.

In den letzten Jahren ihres Lebens in Paris, wohin sie 1948 nach der Machtübernahme der Kommunisten in der Tschechoslowakei nach emigrierte, geriet Toyen leider in Vergessenheit. Die Hamburger Kunsthalle zeigt (noch bis zum 13. Februar 2022) rund 300 Exponate aus allen Schaffensphasen Toyens, darunter 100 Gemälde, 180 Zeichnungen, Collagen, Illustrationen, Druckgraphiken sowie illustrierte Bücher und Objekte aus über 60 Sammlungen und europäischen Museen, wie dem Moderna Museet Stockholm, dem Centre Georges Pompidou Paris, dem Musée d’Art Moderne de Paris, dem Musée d’Art et d’Histoire de Saint-Denis und der Nationalgalerie Prag.

Bereits mit 17 Jahren verließ Marie Čermínová ihre bürgerliche Familie. Toyen nennt sie sich nach dem französischen citoyen (Bürger) auch zur Vermeidung der geschlechtlichen Zuordnung in ihrem Nachnamen. Anfang der 1920er Jahre begründete Toyen gemeinsam mit dem tschechischen Maler, Fotografen und Dichter Jindřich Štyrský die avantgardistische Kunstströmung des Artifizialismus, der eine Umformulierung poetistischer Grundprinzipien auf dem Gebiet der bildenden Kunst propagierte. Ein neues Verständnis der Malerei als Farbgedicht. Sie sind dabei den konstruktivistischen und futuristischen Strömungen aus den Niederlanden und Russland oder dem Kubismus sehr nahe. Aber auch andere Einflüsse finden sich im Frühwerk von Toyen, wie etwa die naive Kunst des französischen Autodidakten Henri Rousseau, einem Wegbereiter des Surrealismus, oder der Primitivismus im Werk von Paul Klee. Beispielhaft stellt die Ausstellung hier Werke der Vorbilder den naiv anmutenden Zirkusbildern der jungen Künstlerin oder den zum Teil abstrakten Farb- und Formexperimenten, die Toyen und Štyrský bei ihrem ersten Parisaufenthalt schufen, gegenüber.

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Im Raum, der wie ein Bild von Toyen mit dem Motto Eine Nacht in Ozeanien überschrieben ist, explodieren dann förmlich die Farben in ihren nach 1930 geschaffenen Gemälden. Toyen näherte sich hier den Themen des Surrealismus wie dem Traum und der Nacht, dem Unbewusstem und der Erotik in surrealen Farbrausch-Bildern, die Schlaf-Flora; Aus südlichen Meeren oder Verlangen heißen. Die Symbol-Palette des Surrealismus ist hier schon klar erkennbar. Biomorphe Gestalten wie in Magnetische Frau oder Stranden im Traum erinnern auch an Max Ernst, den deutschen Maler unter den Pariser Surrealisten. Ein weiterer Einfluss sind die Abstraktes und Figürliches verbindenden Traumlandschaften des französischen Surrealisten Yves Tanguy, mit dem Toyen ebenfalls eine lebenslange Freundschaft verband. Traum [s. Abb. unten] oder Rosa Gespenst sind gute Beispiele für die fruchtbare künstlerische Auseinandersetzung mit dem französischen Surrealismus.



Toyen: Traum (1937), Öl auf Leinwand, 81 × 99 cm; Kunsthalle Prag | Foto © Kunsthalle Praha


Dass auch der zur französischen Surrealisten-Gruppe hinzugestoßene Salvador Dali zu den Einflüssen Toyens zählt, zeigen erste figürliche Elemente wie weinende Gesichter, Augen oder andere surreale Objekte in Trugbild und Objekt-Phantom oder dem Grafikzyklus Der Schießplatz, in dem Toyen 1939 die Schrecken der deutschen Besatzung in der Tschechoslowakei verarbeitete. Während des Zweiten Weltkriegs lebten Toyen und Štyrskýs wieder in Prag. Es entstanden nun vorwiegend Illustrationen zu im Untergrund von Jindřich Heisler geschriebenen Gedichten wie dem Zyklus Nur die Turmfalken brunzen ruhig auf die 10 Gebote. Toyen versteckte den jüdischen Dichter bis zum Ende des Kriegs in ihrer Wohnung. Den frühen Tod Štyrskýs 1942 verarbeitete Toyen in dem Gemälde Trauriger Tag (1942). Das surreale Andachtsbild ist wie Der Krieg (Die Vogelscheuche) aus dem Jahr 1945 gegenständlich gemalt. Ein Stil den Toyen nach dem Krieg mit Bildern wie Naturgesetz fortsetzte, was an die Malerei des den Surrealisten nahestehenden René Magritte erinnert.

Nach einem künstlerischen Neuanfang in der Nachkriegs-Tschechoslowakei geht Toyen infolge zunehmender Feindseligkeiten der kommunistischen Presse gegen die Prager Surrealisten wieder nach Paris. Von einer Ausstellung auf Einladung von André Breton kehrt Toyen nicht mehr zurück. Sie beschäftigt sich nun in ihren Bildern vor allem mit der Alchemie und den ihr zugrundeliegenden Veränderungsprozessen. 1950 schafft Toyen sieben großformatige Gemälde mit mysteriösen Wesen aus Kleid-ähnlichen Hüllen. Der Zyklus Die sieben gezogenen Schwerter zu surrealistischen Gedichten verarbeitet die lyrische Abstraktion der Tachisten-Bewegung, eine Unterart des nach dem Krieg in Europa aufkommenden abstrakten Informel. Dabei werden spontan sogenannte Farbflecken als Ausdruck für spontane Empfindungen und des Unbewussten auf die Leinwand aufgetragen.

In den 1960er- und 70er Jahren wurden die Bilder von Toyen immer düsterer, verschwommener und traumähnlicher. Tiere bevölkern gespensterartig die Gemälde Nacht für Nacht; Traum oder Mitternacht die gewappnete Stunde. Zusätzlich arbeitete Toyen wie schon in früheren Phasen mit der Collage-Technik wie etwa der Einfügung eines Fotofragments eines aufgerissenen Mundes in das Ölbild Der Paravent. Mittag-Mitternacht [s. Abb. unten] und Unersetzlich gegen Rasurbrand sind reine Collagen auf Papier, die Motive aus der Werbung aufgreifen. Die Künstlerin entwarf 1976 collagierte Gesichtsmasken für das Theaterstück König Gordogan des kroatischen surrealistischen Schriftstellers Radovan Ivšić. Die Falle der Wirklichkeit heißt das 1971 geschaffene letzte Gemälde von Toyen. Ein Beispiel für ihre Versuche der Darstellung des Realen zwischen Präsenz und Absenz, Präsentation und Repräsentation mittels Analogien zwischen Menschen und der Pflanzen-, Tier- oder Objektwelt.



Toyen: Der Paravent, 1966, Öl und Collage auf Leinwand, 116 × 73 cm;
Musée d’art moderne de la ville de Paris
© Julien Vidal / Musée d’art moderne / Roger-Viollet

Stefan Bock - 30. November 2021
ID 13335
Den zeitgleich erschienenen Ausstellungskatalog zu HOYEN (Hirmer Verlag, 2021) gaben Annabelle Görgen-Lammers, Annie Le Brun und Anna Pravdová heraus.

Weitere Infos siehe auch: https://www.hamburger-kunsthalle.de/


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