Malen und
überschreiten
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Bewertung:
Walter Sickert lebte von 1860 bis 1942. Mit seiner Geburt wurde die Atelierkunst begraben, unzählige Künstler folgten dem Lockruf des Impressionismus, verließen ihre Stuben, um im Freien zu arbeiten. Cezanne leitete die Moderne ein, mit Picasso kam die Avantgarde, und das klassische Museum verschwand. Die Stilrichtungen fingen an sich zu überschlagen, und es kamen und gingen die Expressionisten, die Surrealisten, die Kubisten, die Futuristen und die Dadaisten, nur um ein paar zu nennen. All dies schien den Exzentriker Walter Sickert aber nicht wirklich tangiert zu haben. Er schloss sich keiner dieser Tendenzen an und entwickelte seinen eigenen Stil, seinen individuellen Realismus, seinen persönlichen Manierismus. Das Pariser PETIT PALAIS zeigt zurzeit - in Zusammenarbeit mit der Tate Britain - eine umfangreiche Retrospektive des englischen Malers, der in deutschen oder in französischen Museen wenig oder gar nicht vertreten ist, in England aber zu den bedeutendsten Künstlern seiner Zeit gehört. Sickert war ein rätselhafter, undurchschaubarer Künstler, Kunstkritiker und Lehrer ohne jegliche Berührungsängste und sehr selbstsicher. Seine Bilder destabilisieren den Betrachter, je mehr man sich auf sie einlässt. Der Titel der Ausstellung lautet: Walter Sickert. Peindre et transgresser (dt.: "malen und überschreiten").
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Walter Richard Sickert, Autoportrait, Vers 1896 | © Leeds Museums and Galleries (Leeds Art Gallery), U.K. / Bridgeman Images
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Gleich im ersten Raum hängt ein in Rosttönen gehaltenes, düster-enigmatisches Autoportrait. Sickert erfindet sich im Verlauf seiner Karriere immer wieder neu. Wie ein Chamäleon rutscht er, je nach Gegebenheit oder Situation, in unterschiedliche Rollen, wechselt seine Kleidung, seinen Haarschnitt, seine Gesten, ja sogar seine Art zu sprechen. Ähnlich Toulouse-Lautrec oder Degas entwickelt er eine große Vorliebe für Café- und Varieté-Szenen, die sogenannten Music-Hall-Bilder. Diese Werke sind auch seine besten, seine überzeugendsten. Im viktorianischen England stößt er mit diesen Arbeiten auf Ablehnung, aber gerade das dürfte ihn gereizt haben. Eines seiner Lieblingslokale war das „Old Bedford“. Sickert beleuchtet individuell die Bühne, das Lokal und das Publikum in einer schmutzigen, rauchgeschwängerte Dunkelheit, die höchstens von knallroten Kleidern unterbrochen wird und mit seltsamen Perspektiven und schräg eingesetztem Licht verwirrt und Unruhe stiftet. Die Welt des Spektakels fasziniert ihn sein Leben lang, und er verbringt viel Zeit in Musikhallen oder Theatern. An manchen Abenden bleibt er gleich zwei oder dreimal in derselben Vorstellung, macht sich Skizzen und vervollständigt das Bild später in seinem Atelier, meist in Begleitung des jeweiligen Modells.
Als sich seine erste Frau wegen seiner permanenten Untreue von ihm scheiden lässt, versiegt damit für ihn auch eine sichere Geldquelle, und Sickert muss Porträtaufträge übernehmen. Wirklich gut werden diese Portraits aber nur, wenn er das Modell kennt oder mit ihm befreundet ist. In der Dieppe- und Venedig-Zeit wendet er sich vom Impressionismus geprägten Landschaften und Veduten zu in der Hoffnung, diese pittoresken Bilder leichter verkaufen zu können. Sie sprechen zwar von seiner Bewunderung für Architektur, sind aber weniger interessant als die Musik-Hall-Bilder. Dass hier und auch bei seinem Spätwerk die Fotografie eine große Rolle spielte, hat er immer wieder zugegeben, ja sogar damit kokettiert.
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Walter Richard Sickert, Rehearsal, The End of The Act. The Acting Manager, 1885-1886 | Collection particulière. Photo © Christie’s Images / Bridgeman Images
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Um 1900 ändert er erneut seine Motive, verlässt die Landschaftsmalerei und spezialisiert sich auf krude Nacktszenen. Er legt keinen Wert auf Schönheit und malt Frauen in schmutzigem Grau und matschig-schlammigen Brauntönen, die durch das aggressive Licht noch unerotischer daher kommen. Das Gesicht seiner Modelle ist meist nicht oder nur schlecht zu erkennen. Sickert macht den Betrachter zum Voyeur und will, dass sich Letzterer nicht gut fühlt in dieser Beobachter-Rolle. Mit dicken Pinselstrichen und schmierig-rußigen Farben zeigt er das ungesunde Umfeld der Prostitution, von Armut oder Unterdrückung. Später wird sich der Maler Lucian Freud an diesen unsinnlichen Nacktszenen inspirieren und seine Modelle in ein ähnliches Umfeld platzieren. 1905 lässt Sickert sich wieder in London, in Soho nieder und gründet mit Gilman die Camden Town Group. Die Serie Camden Town Murder befasst sich mit dem Gewaltverbrechen. Das Werk L’affaire du Camden Town entsteht 1909. Eine nackte Frau liegt halb auf dem Rücken auf einem Bettgestell aus Metall. Ihr Arm bedeckt ihr Gesicht. Sie wird von einem stehenden, bekleideten Mann mit verschränkten Armen beobachtet. Obwohl keine Gewalt sichtbar ist, ist sie spürbar. Angeblich hat Sickert der Mord an Emily Dimmock zu dieser Serie inspiriert. Er selber wollte einmal die Londoner Polizei davon überzeugen, Jack the Ripper persönlich zu sein. Diese Vermutung, die dann aber wieder im Sand versickerte, wurde 2002 von der Krimiautorin Patricia Cornwell erneut aufgenommen.
Nach dem Ersten Weltkrieg lässt Sickert sich definitiv in England nieder, kommt wieder mit dem Theater in Berührung und nennt sich Mr. Nemo. Wieder benutzt er die Fotografie als Grundlage für seine Werke. Repräsentativ dafür das Bild Jack and Jill (1937), das Sickert nach dem Filmplakat für den Edward G. Robinson-Film Bullets or Ballots gemalt hat. Das Gangster-Paar füllt die Leinwand komplett aus, dahinter ist nur Nacht. Der Künstler experimentiert hier mit einem ganz persönlichen chiaroscuro-Stil. Sickert vollzieht die Transition vom Post-Impressionismus zur Moderne, ohne jemals die Schwelle der Abstraktion überschritten, ja sie nicht einmal betreten zu haben.
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Walter Richard Sickert, The PS Wings in the O.P Mirror ou le Music-Hall (1888-1889 © C. Lancien, C. Loisel / Réunion des Musées Métropolitains Rouen Normandie
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Walter Sickert wurde 1860 in München geboren. Sein Vater, dänischen Ursprungs, war Maler und seine Mutter die illegitime Tochter eines englischen Wissenschaftlers aus dem Umfeld der Königin und einer irländischen Tänzerin, die später nach Australien ging. Seine Schwester gehörte der Suffragettenbewegung an. Als Neunjähriger kam Walter Sickert mit seiner Familie zum ersten Mal nach London, wo er sich anfangs als Schauspieler versuchte und sogar kleinere Rollen in Sir Henry Irvings Company hatte. Später nahm er Malunterricht bei Whistler. 1883 lernte er in Paris Degas kennen, der ihm auch den Rat gab, die Fotografie für seine Bilder einzusetzen. Sickert lebte zeitweise in Dieppe und verbrachte viel Zeit in Venedig. 1913 stellte er in der Armory Show in New York aus. Unzählige Affären brachten ihn immer wieder in größte Schwierigkeiten. Seine zweite Frau starb 1919 und Sickert heiratete zum dritten Mal eine ehemalige Schülerin, Therese, die mit seinen Affären besser umgehen kann. In den 1930er Jahren zählte er zu den bekanntesten, britischen Malern.
Die 1941 von der Londoner National Gallery organisierte große Retrospektive kann Walter Sickert aufgrund von gesundheitlichen Problemen nicht mehr besuchen. Er starb im Januar 1942 in Bathampton. Auf dem Festland geriet der heute als unterschätzt gehandelte Künstler schnell in Vergessenheit, was diese Retrospektive nun ändern soll. Sickerts Befassung mit der Fotografie und deren Anwendung in der Kunst wird als einer der Ursprünge der Pop Art angesehen.
Die Schau ist noch bis 29. Januar 2023 in Paris zu sehen. Kuratiert haben die Ausstellung Alex Farguharson, Tate Britain und Delphine Lévy, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris und ihre jeweiligen Teams.
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Christa Blenk - 22. Dezember 2022 ID 13973
Weitere Infos siehe auch: https://www.petitpalais.paris.fr
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