NEUE
NATIONAL-
GALERIE
am Kulturforum Berlin
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Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, Berlin-Tiergarten | © Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker
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Nach sechs Jahren der Generalsanierung hat die NEUE NATIONALGALERIE am Berliner Kulturforum wieder ihre Türen für den Publikumsverkehr geöffnet. Der zweite große Museumsbau mitten in der Corona-Pandemie und außerdem gleich neben der Baustelle für das neue Museum der Moderne. Eine Ikone der Moderne ist auch der Mies-van-der-Rohe-Bau, 1965-1968 vom ehemaligen Bauhaus-Direktor geplant und erbaut. Errichtet infolge der Teilung der Stadt für die Sammlung der Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin beherbergt die NEUE NATIONALGALERIE seit der Wiedervereinigung die Bestände der Staatlichen Museen zu Berlin im Bereich der Malerei, Skulptur und Plastik des 20. Jahrhunderts. Ein Kanon der klassischen Moderne bis hin zur Kunst der 1960er Jahre.
Mit der Neupräsentation dieses Kanons will sich das Haus auch den neuen Diskursen in Kunst und Gesellschaft öffnen. Die Klassische Moderne steht nun nicht mehr nur für „bahnbrechende formale Neuerungen“, wie es in erklärenden Tafeln in der Ausstellung heißt. Die westliche Moderne steht auch auf den Schultern nichteuropäischer Kulturen und hat diese jahrzehntelang ignoriert. Der Kanon der westlichen Kunstgeschichte wird zunehmend als zentristisch, vorwiegend weiß und männlich wahrgenommen. Dem trägt auch die Sammlungspräsentation zum Thema Die Kunst der Gesellschaft 1900–1945 Rechnung. Natürlich zeigt man stolz, was man hat. Den Blick auf blinde Flecken in den Biografien der Künstler, oder auf bisher kaum beachtete Künstlerinnen lenken die schon erwähnten Tafeln. Aber wer vieles richtig machen will, macht es noch lange nicht allen recht.
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Cover des Ausstellungskatalog - hierauf: Conrad Felixmüller, Der Redner Nr. I Otto Rühle, 1920 (Replik des Künstlers von 1946) - Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin, Klaus Göken
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Vorbei an der relativ unverfänglichen Reformbewegung, die zumeist ein Zurück zur Natur und die Abkehr von bürgerlichen Werten propagierte (heute könnte man auch das etwas anders sehen), geht es zu Politik und Propaganda. Noch vom Jugendstil beeinflusste Künstler wie Ferdinand Hodler, Georg Kolbe und Edvard Munch bringen das symbolistische Seelenleben in die Moderne. Wenzel Hablik malt 1917 in seinem Gemälde Meereszauber farbige, fast schon kubistische Luftschlösser über nackten Badenden. Eine utopische Abwandlung von Arnold Böcklins Toteninsel. Wenig später geht der Worpsweder Malerkollege von Paula Modersohn-Becker, Heinrich Vogeler, aus seiner sozialistischen Malerkommune in die junge Sowjetunion und malt seine sogenannten am Kubismus und Futurismus orientierten „Komplexbilder“ mit kommunistischer Symbolik wie Hammer und Sichel im Wandzeitungsstil. In der Ausstellung hängen drei davon als Beispiele typischer Propagandakunst.
Geht Conrad Felixmüllers Der Redner Nr. 1, ein Porträt des kommunistischen Parteiführers Otto Rühle aus dem Jahr 1920, wohl noch als kritische Betrachtung eines Propagandisten durch, entzündet sich an den Werken Vogelers die Empörung. In einem Artikel in der Neuen Züricher Zeitung wirft die deutsch-ungarische Literaturwissenschaftlerin, ehemalige Kultur-Diplomatin und hessische Staatssekretärin für Europaangelegenheiten Zsuzsa Breier der Ausstellung vor, sie verharmlose kommunistische Gewaltherrschaft und die Sowjetunion. Ob die liberal-konservative Dame, die Viktor Orbán einen Demokraten nannte und wie viele andere auch nichts vom Gendern hält, hier nicht ein wenig über das Ziel hinausschießt, können mündige AusstellungsbesucherInnen sicher selbst entscheiden. Die Tretminen bei der Präsentation europäischer Kunst der Moderne sind aber neuerdings nicht nur in der Sammlung der Neuen Nationalgalerie dicht gelegt.
Geht die KünstlerInnengruppe des Blauen Reiter mit den Paaren Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin sowie Wassily Kandinsky und Gabriele Münter als expressionistische Internationale und fast schon divers durch, kann man sich das Gendern bei den Brücke-Künstlern sparen. Die früher als Avantgardisten des deutschen Expressionismus gehandelten Künstler Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff, Erich Heckel, Max Pechstein und Otto Müller sieht man heute vor allem wegen der Auswahl ihrer zumeist recht jungen weiblichen Modelle sehr kritisch, worauf auch in der Ausstellung entsprechend hingewiesen wird. Eine Text klärt darüber auf, wer die Modelle waren.
In der Reihe der in Petersburger Hängung präsentierten Brücke-Künstler kommt auch Emil Nolde mit einem blauen Auge davon. Der glühende Nazi und Antisemit, der vom Kunstliebhaber, malenden Autodidakten und professionellen Massenmörder Hitler trotzdem als künstlerisch entartet aussortiert wurde, bastelte nach dem Zweiten Weltkrieg auch unterstützt von der deutschen Kunstkritik fleißig an seiner Opferrolle, die erst nach Öffnung des Archivs in der Nolde-Stiftung in Seebüll wieder demontiert werden konnte. Beispiel einer kritischen Nolde-Betrachtung ist die Ausstellung Emil Nolde - Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus 2019 im Hamburger Bahnhof. Daraufhin hängte sogar die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel zwei seine Werke in ihrem Büro ab.
Nolde steht in der Präsentation aber für die künstlerische Verklärung des deutschen Kolonialismus. Exotische Sujets waren damals beliebt. Die Brücke-Künstler begeisterten sich beim Besuch der ethnologischen Sammlungen in Dresden, Berlin und Hamburg für Kultgegenstände aus den damaligen Kolonien und gaben sie in ihrer Malerei wieder. Noldes Gemälde Papua-Jünglinge ist die Darstellung von Bewohnern der Südseeinseln, die der Künstler 1914 bei einer „Medizinisch-demografischen Deutsch-Neuguinea Expedition“ besuchte, als primitive Zivilisation im Kontext scheinbar wissenschaftlich legitimierten „Rassenkunde“, wie es im Erklärungstext dazu heißt.
Und so stolpern die zahlreich mit Zeitfensterticket erschienenen BesucherInnen fragend durch die neu gestalteten Ausstellungsräume im Sockelgeschoss. Dürfen sie uneingeschränkt staunen, oder sollen sie eher nachdenklich gestimmt sein? Ob erklärende Text-Tafeln den Blick auf die Kunst schärfen oder eher verstellen, hängt nicht nur ab von der Sensibilität der KuratorInnen, der Qualität der Texte, oder einem Zwang, jedem neuen Trend in der Kunstrezeption hinterher zu rennen. Es braucht eine breitere Akzeptanz in der Gesellschaft, sich auf eine neue Art der Betrachtung einzulassen.
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Skulpturengarten der Neuen Nationalgalerie Berlin | Foto (C) Stefan Bock
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Zumindest die zur Eröffnung der Neuen Nationalgalerie noch amtierende Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) ist von einem „glanzvollen Comeback als Pilgerstätte für Liebhaberinnen und Liebhaber moderner Kunst“ überzeugt. Dem möchte man angesichts der Bilderflut und großen Namen auch nicht widersprechen. Durch die Blume der bildenden Kunst erfährt das Publikum etwas über die Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mittels der gewählten Themenbereiche wie Stadtsplitter der Metropole Berlin und den bekannten Stadtansichten vom nahen Potsdamer Platz von Max Liebermann bis Ernst Ludwig Kirchner, Epochenbilder der Weimarer Republik, KünstlerInnen der Galerie Sturm, Exilkunst mit Schwerpunkt Max Beckmann, Entartete Kunst und schließlich die Darstellung des Leids der zwei Weltkriege in der Abteilung Trauma und Zerstörung.
Mit ca. 250 Gemälden und Skulpturen aus den Jahren 1900 bis 1945 in den Kunstrichtungen Expressionismus, Kubismus, Surrealismus, Neue Sachlichkeit, Bauhaus und Abstraktion versammelt die NEUE NATIONALGALERIE ein Who's who herausragender Künstlerpersönlichkeiten der Klassischen Moderne. Außer den schon erwähnten sind das u.a. Hans Arp, Willi Baumeister, Rudolf Belling, Otto Dix, Max Ernst, Lyonel Feininger, George Grosz, Hannah Höch, Karl Hofer, Paul Klee, Oskar Kokoschka, Käthe Kollwitz, Lotte Laserstein, Wilhelm Lehmbruck, Oskar Schlemmer, Kurt Schwitters und Renée Sintenis. Aber auch viele internationale Größen wie Salvador Dalí, Giorgio De Chirico, Alberto Giacometti, Fernand Léger, René Magritte, Joan Miró, Pablo Picasso, die gerade wiederentdeckte abstrakte schwedische Malerin Hilma af Klingt oder der französische Kubist Robert Delaunay, dessen Gemälde des Pariser Eifelturms einen ganz zentralen Blickfang bildet.
Kaum jemand dürfte dabei noch Zeit finden zur Begutachtung der nach Planungen von David Chipperfield Architects für 140 Millionen Euro sanierten Bausubstanz, die aber nicht nur für Architekturinteressierte einen genaueren Blick wert ist. So genügt nun die neue Verglasung der sanierten Stahl-Glasfassade den thermischen Beanspruchungen. Das obere Geschoss ist wieder der offene Raum zur umgebenden Stadt, die sich von außen in den Scheiben spielgelt. Im Inneren bietet es viel Platz für Skulpturen und Installationen, wie gerade die Ausstellung mit Werken des kinetischen Künstlers Alexander Calder beweist. Im Sockelgeschoss befindet sich neben den Ausstellungsräumen eine in den alten Magazinen entstandene Garderobe und auch ein separater Museumshop. Das Kassenfoyer ist somit wieder frei von Einbauten. Neue Depoträume sind unterirdisch gebaut worden. Für kleine Pausen erstrahlt das Museumcafé mit neu gestalteter Inneneinrichtung. Und auch der Skulpturengarten im hinteren Teil ist wieder offen und lädt wie das gesamte Haus zum Verweilen ein.
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Außenansicht der Neuen Nationalgalerie in Berlin | Foto (C) Stefan Bock
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Stefan Bock - 22. Dezember 2021 ID 13375
Neue Nationalgalerie
Potsdamer Straße 50
10785 Berlin
Tel.: 030 266 424242
Öffnungszeiten
Mo | geschlossen
Di, Mi, Fr-So | 10 - 18 h
Do | 10 - 20 h
Eintrittspreise
14 € | erm. 7 €
Link zur Homepage der Neuen Nationalgalerie
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