Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 4

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Werkbetrachtung

Garçon d´honneur von

Chaïm Soutine (1893–1943)



Das Gesamtwerk von Chaïm Soutine (1893–1943) ist eine Fusion aus buntem Fauvismus, radikalem Expressionismus und persönlicher Abstraktion. Seine Bilder sind chromatische Explosionen und strotzen vor Wut und Jähzorn, seine Architektur kommt verzogen, baufällig daher, und während die Stillleben von seinem Hunger erzählen, sind die Kadaver von Tieren noch vom Todeskampf gezeichnet. Soutine malt am liebsten Menschen bei ihren Tätigkeiten, Malerkollegen, Modelle, Mätressen und seinen Freund Modigliani. Meist in Frontalansicht vor einem unaufdringlichen Hintergrund.

Das Porträt des Garçon d'honneur fällt ein wenig aus der Reihe, es vermittelt zwar Kälte, aber jeglicher Hinweis auf Not, Hunger oder Misere fehlt:


Garçon d'honneur von Chaïm Soutine (1893–1943) | Bildquelle: musee-orangerie.fr


Der Mann trägt einen schwarzen Smoking. Die Perspektive hinkt. Sein Oberkörper ist zu kurz, die Beine auf dem unsichtbaren Stuhl im Verhältnis zu lang. Ist er wirklich ein Garçon d'honneur, ein Trauzeuge, oder ist er ein Ober in einem schicken Restaurant? Der blau-weiße und von rosa Striemen durchzogene Hintergrund ist eiskalt, sieht aus wie eine schlecht gepflegte Schlittschuhbahn. Man spürt die Kälte. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass der Mann eventuell vor einem Schaufenster sitzt, das sich gerade im Dekorationsmodus befindet. Der Maler hat ein wenig von der schmutzig-weißen Farbe des Schaufensters abgekratzt, um Platz für das Spiegelbild als dunklen, unheilverkündenden Schatten seines Protagonisten zu machen. Es gibt keine Distanz zwischen dem Hintergrund und der Person. Sie steckt dort fest, wirkt aufgedruckt. Seine Haltung und die Position von Händen und Beinen suggerieren, dass der Mann auf einem Stuhl sitzt, obwohl Soutine den Stuhl weggelassen hat. Das gerötete Gesicht spricht von einigen Gläsern Wodka, die schiefe Nase im Gesicht ist zu groß, die Ohren leicht abstehend. Der Mann ist jung. Seine dunklen, dichten Haare korrekt frisiert. Er blickt nach unten auf sein weiß-gelbliches Hemd oder auf die schief sitzende Fliege. Seine fleischigen, übergroßen und tollpatschigen Hände liegen auf seinen Oberschenkeln und passen nicht zu seiner sonstigen, eher eleganten Erscheinung. Das Bild ist unterhalb der Knie abgeschnitten. Die rosigen Farbtöne und die übernatürlich vergrößerten Hände sind typisch für Soutine. Wo die Szene stattfindet, ist nicht zu erkennen. Weder Hintergrund noch Farbgebung verraten etwas. Die Position der Hände sowie die abgeschnittenen Beine lassen an ein Porträt von Ingres (Monsieur Bertin) denken.


Das Bild entstand 1924/1925, misst 100 x 81 cm und hängt in der Pariser Orangerie.

*

In den oft verstörenden, beunruhigenden Bildern von Chaim Soutine spiegelt sich sein hartes Leben wider. Die Farbgebung ist ausgesprochen intensiv, die Dimensionen existenziell, sein Pinsel dick und unförmig, unbarmherzig. Er fängt auf seinen Werken die Epoche ein, in der er lebt, nicht nur sein persönliches Unglück. Als jüdischer Emigrant hatte er es nicht leicht in Paris. Hinzu kam sein verschlossenes Wesen, seine Unangepasstheit, sein Außenseitertum gepaart mit Entbehrung und Elend. Freunde hatte er eher wenige. Amedeo Modigliani wurde mit der Zeit sein engster Vertrauter.
Christa Blenk - 4. Februar 2025
ID 15131
Chaïm Soutine selber war das zehnte von elf Kindern. Er wurde in Smilawitschy, einem belorussischen Schtetl mit 400 Einwohnern, geboren. Sein Vater war ein Flickschneider. Liebe oder Zärtlichkeit fehlten in seiner Familie. Der Vater streng, die Mutter verhärmt, ohne Verständnis für seine Ambition malen zu wollen. Sein Heimatdorf bestand aus baufälligen Holzhütten, die Soutine später in einem Bild (Les Maison von 1921) aufarbeitet. Darin scheinen die Häuser flüchten zu wollen, auszuwandern. Sie haben Gesichter und sind in Bewegung. Soutines Perspektiven sind nicht nachzuvollziehen. Die Konturen seiner Arbeiten verzerrt. Er schöpft immer aus dem Vollen.

Mit seinem Freund Michel Kikoine machte Soutine sich als Sechzehnjähriger von seinem Geburtsort zu Fuß auf nach Minsk, wo er eine Fotolehre absolvierte und nebenbei die Kunstakademie besuchte. Zwei Jahre später ging er nach Wilma und durfte dort nach einem zweiten Anlauf drei Jahre Kunst studieren. Mit dem Zug kam er 1913 in Paris an. Er landete in der Künstlerkolonie „la Ruche“, wo er auch Modigliani kennenlernte, der ihn wiederum mit dem Kunsthändler Leopold Zborowski zusammenbrachte. Soutine war eine Urgestalt, ungeschliffen, nicht gesellschaftsfähig, grob, tat sich schwer mit Beziehungen. Modigliani nahm ihn ab und zu nach Südfrankreich mit. Der permanente Hunger, den er litt, führte zu einem chronischen Magenleiden. Nach dem der Arzt und Kunstsammler Albert C. Barnes Werke von ihm kaufte, ging es etwas aufwärts. In den 1930er Jahren wurden Bilder von ihm in den USA und in London gezeigt. Da Soutine registrierter Jude war, musste er sich während der deutschen Besatzung in Paris in einem kleinen Ort außerhalb der Hauptstadt verstecken. Max Ernst' ehemalige Frau Marie Berthe wurde in dieser Zeit seine Gefährtin. Soutine starb 1943 während einer Magenoperation, die heimlich in Paris durchgeführt wurde. Er liegt auf dem Pariser Friedhof Montparnasse begraben.

1964 wurden posthum Werke von Soutine auf der documenta III in Kassel gezeigt. Soutines Gemälde Le Boeuf (1923) erziehlte 2015 im Auktionshaus Christies 28,2 Millionen US Dollar.



Weitere Infos siehe auch: https://www.musee-orangerie.fr/fr/oeuvres/garcon-dhonneur-196569


Post an Christa Blenk

eborja.unblog.fr

Ausstellungen

Kulturspaziergänge

Museen

Werkbetrachtungen



Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!



Vielen Dank.



  Anzeigen:




KUNST Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

AUSSTELLUNGEN

BIENNALEN | KUNSTMESSEN

INTERVIEWS

KULTURSPAZIERGANG

MUSEEN IM CHECK

PORTRÄTS

WERKBETRACHTUNGEN
von Christa Blenk



Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal


Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2025 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)