Danseuse (Die Tänzerin) von
Jacqueline Marval (1866-1932)
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Bei Daphnis und Chloe handelt es sich um einen bukolisch-erotischen Abenteuerroman, der auf der Insel Lesbos spielt und gegen Ende des 2. Jahrhunderts von Longus geschrieben wurde. In dem Roman geht es um zwei Findelkinder. Daphnis und Chloe wachsen getrennt bei zwei Schäferfamilien auf, deren Schafe nebeneinander weiden. Die Kinder freunden sich an, spielen miteinander, verlieren sich aus den Augen, finden sich wieder, werden Liebende. Spätestens hier vermutet der geneigte Leser, dass es sich um Königskinder handeln könnte. Die Geschichte von Daphnis und Chloe hat im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder Künstler und Musiker inspiriert.
Das Bild Danseuse (dt.: Die Tänzerin) ist eine Studie für einen Zyklus über Ein Tag im Leben von Daphnis und Chloé, den die französische Künstlerin Jacqueline Marval (1866-1932) für das 1911 neu gebaute Pariser Théâtre de Champs Elysées entwarf. Ursprünglich handelte es sich um zwölf Tafeln.
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Jacqueline Marval: Danseuse, 1909 | Bildquelle: Wikipedia
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Die Tänzerin macht gerade Aufwärm- oder Dehnübungen. Ihr rechtes Bein ist nach hinten ausgestreckt. Knie und Zehen der jungen Frau berühren den Boden. Konzentriert und ruhig schnürt sie ihren linken Ballettschuh, der fest auf dem Boden steht. Das Bein ist angewinkelt. Sie befindet sich auf einer bunten, saftigen Blumenwiese vor einer farblichen Halbkugel, die aus Farbexperimenten zu bestehen scheint. Es könnte sich aber auch um ein Fabeltier handeln. Die Tänzerin ist die einzige Person im Bild und trägt ein weißes, kurzes, ärmelloses Kleid mit unterschiedlich großen blauen Blumen oder schlampigen Punkten. Ein Band im selben Blauton hält ihre blonden Haare zusammen. Es ist ein ruhiges Bild, obwohl die Diagonale über dem Rücken der Tänzerin von links oben nach rechts unten Bewegung ankündigt. Marval malt mit reduzierter Farbpalette. Sie benutzt praktisch nur Pastellfarben in blau, rosa, grün und gelb. Die Malerei erscheint auf den ersten Blick kindlich, aber nicht naiv. Im Hintergrund deutet sie einen Wald an. Das komplette Werk kommt wie geordnetes Chaos daher. Dieses blau gepunktete Kleid der Studie Die Tänzerin taucht in fast allen anderen Tafeln des Zyklus wieder auf und spielt eine wichtige Rolle. Einmal tanzt sie darin im Kreis von Kindern, ein anderes Mal liegt sie umgeben von Tieren und einem Flötenspieler nackt auf dem Kleid oder sie befindet sich in inniger Umarmung mit Daphnis. Alle Szenen finden auf der von Sonne überstrahlten Blumenwiese in perfekter, farblicher Wohlfühl-Harmonie statt.
Das Bild misst 97 x 144 cm und entsteht 1913 als Studie für den Zyklus Ein Tag im Leben von Daphnis und Chloé.
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Die bekannteste Tafel dieses Zyklus ist La Danse bleue (dt.: Der blaue Tanz, 1913). Darauf hüpfen sieben junge Mädchen frenetisch durch das Bild. Auf den ersten Blick denkt man an Matisse. Aber bei Marval toben die Tänzerinnen, sind ungehalten, hemmungslos. Nichts scheint geplant oder vorhersehbar zu sein. Sie tragen blaue, kurze Kleider, haben gelbe Haare und vor ihnen auf dem Boden liegt ein nackter, flötenspielender, junger Mann in Rosatönen auf einer Blumenwiese. Ihn scheint das hektische Herumgehüpfe nicht zu stören und Angst, von den Tänzerinnen zertrampelt zu werden, hat er auch nicht.
Marvals kompletter Zyklus erscheint flüchtig, unfertig, verspielt, frei. Ihr Pinselstrich ist schnell, für Konturen hat sie keine Zeit. Manchmal haucht sie eine Figur oder eine Szene ins Bild, dann trägt sie wieder ganz dick auf. Alle Tafeln wirken frisch und spontan.
Ein Kunstkritiker von La Gazette des Beaux-Arts unterstellte ihr, den Roman von den Findelkindern nur oberflächlich gelesen und aus der Erinnerung heraus gemalt zu haben. Allerdings hat Marval dem Kunstverleger Vollard schon 1906 die von Pierre Bonnard illustrierte Ausgabe La Pastorale de Longus abgekauft und sich schon seit Beginn ihrer Malerkarriere immer wieder mit dem Thema von Daphnis und Chloe befasst.
Das Pariser Théâtre des Champs-Elysées liegt in einer Seitenstraße der Prachtstraße, in der Avenue Montaigne. Viele Künstler hatten bei der Gestaltung des von Auguste Perret nach Plänen von Henry van de Velde in den Jahren 1911-1913 erbauten Theaters, das auch heute noch zu den beliebten Pariser Spielstätten gehört, ihre Hand im Spiel. Die Flachreliefs an der Fassade stellen Apollon mit den Musen dar und sind von Emile Antoine Bourdelle. Die Innenausstattung ist eine Mischung aus Nabis, Jugendstil und Art Déco. Die vergoldeten Skulpturen auf der Vorbühne sind von Maurice Denis. Im kleineren Saal hat Edouard Vuillard Malereien hinterlassen und der Vorhang ist von Ker-Xavier Roussel. Im ersten Stock hängen acht Tafeln von Jacqueline Marval, die irgendwo zwischen Impressionismus, Symbolismus, Fauvismus und kindlichem Expressionismus liegen. 1913 hat Le Sacre du Printemps in eben diesem Theater die Ballettmoderne eingeleitet und Strawinsky, trotz vernichtender Kritiken, Weltruhm gebracht. Marval selber war begeistert vom Ballets Russes, und der Gedanke drängt sich auf, dass sich die Bühnenbildner an ihren im selben Jahr entstandenen Tafeln inspiriert und Strawinskys rasend-tobendes, heidnisches Frühlingsopfer vorweggenommen haben. Auch spätere Premieren des Ballets Russes unter der Choreographie von Nijinski haben dort stattgefunden.
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Christa Blenk - 6. Januar 2024 ID 14551
Die ehemalige Lehrerin und Westenmacherin Jacqueline Marval, die 1866 unter dem Namen Marie-Joséphine Vallet in der französischen Provinz geboren wird, ist eine sehr freie und ausgesprochen mutige Frau. Mit dem Maler Francois Joseph Girot geht sie nach Paris, lernt Gustave Moreau kennen und zieht später mit Jules Flandrin ins Montparnasse Viertel, wo sie unter anderem von Berthe Weill gefördert wird. Marval freundet sich mit dem Maler Kees van Dongen an. 1901 stellt sie zehn Arbeiten im Salon des Indépendants aus und präsentiert sich selber als Minerva, die Königin der Kunst und des Krieges. 1907 kauft der Händler und Verleger Ambroise Vollard das Selbstporträt Minerva und leitet damit ihren Erfolg ein. Francis Picabia wählt ihr Gemälde Les Odalisques für die Armory Show in New York aus. Apollinaire bezeichnet ihre Arbeiten als bedeutend für die Moderne. Marval schafft es sogar auf die Biennale von Venedig. Als einzige Frau darf sie bei der Innendekoration des neu zu bauenden Theaters mitwirken. Die acht Holztafeln für das Foyer de la Danse die allesamt Ein Tag aus Daphnis und Chloes Leben beschreiben sind heute vom ersten Balkon aus zu sehen.
Allerdings dauert ihr Intermezzo in der Kunstwelt nicht lange. Ihr Spätwerk ist ironisch und erinnert manchmal an die kitschigen Bilder, die man früher in Poesiealben klebte. Nach ein paar erfolgreichen Jahren verliert sie das Interesse an der Malerei. Sie färbt sich die Haare rot, trägt giftgrüne, selbst entworfene Hüte und ausgefallene Kleidung und beginnt zu tanzen. Jacqueline Marval wird "La Fée de la Belle Epoque". Sie stirbt 1932 in Paris.
Wikipedia_lin zum Gemälde Danseuse von Jacqueline Marval
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