"Der Riss beginnt im Inneren"
BERLIN BIENNALE setzt auf das solidarische und heilende Potential der Kunst
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Die 10. BERLIN BIENNALE hatte sich das künstlerische Hinterfragen globaler Zusammenhänge der postkolonialen Welt zur Aufgabe gemacht. Die KuratorInnen der 11. BERLIN BIENNALE für zeitgenössische Kunst begeben sich nun zwei Jahren später wie selbstverständlich in die Fußstapfen des ausschließlich schwarzen Vorgänger-Teams. Dabei legt das KuratorInnen-Quartett María Berríos, Renata Cervetto, Lisette Lagnado und Agustín Pérez Rubi den Fokus vor allem auf die Region Mittel- und Südamerikas. Politisch ist die Biennale schon immer gewesen, und auch die zu dieser Ausgabe geladenen 66 KünstlerInnen zeigen sich in ihren diversen Positionen vor allem antipatriarchal und systemkritisch gegen herrschende Gewalt, bearbeiten feministische, queere und postkoloniale Themen.
Das Motto der Biennale "Der Riss beginnt im Inneren" ist den Worten der ägyptischen Dichterin Iman Mersal entlehnt. Gemeint ist dabei aber nicht in erster Linie das Zerreißen alter Strukturen, aus denen sich stetig neues entwickelt, und somit diese Strukturen nur wieder reproduziert, sondern eher der vielbeschworene Riss im System. Die Kunst legt Zeugnis ab über diejenige, die es zerbricht und berichtet über ihre Kämpfe. „'Der Riss beginnt im Inneren' verneigt sich vor der solidarischen Verletzlichkeit der Heilenden und Fürsorgenden, der Kämpfenden, vor ihren Frakturen und ihrer Macht.“ Das könnte man als typisches KuratorInnen-Kauderwelsch abtun, die 11. BERLIN BIENNALE als globale Schau zeitgenössischer Kunst setzt aber bewusst auf die heilende Kraft des solidarischen Miteinander, des Erzählens und Verstehens. Die Kunst als Mittler zwischen den Welten.
Nun ist auch die bereits im letzten Jahr mit kleinen Prolog-Ausstellung gestartete 11. BERLIN BIENNALE mehr oder weniger ein Opfer der Corona-Pandemie geworden und musste zeitweilig die Ausstellungsräume im Weddinger ExRotaprint-Gelände schließen. Die als Epilog gedachte Hauptschau wurde deswegen auch vom Juni in den September verlegt. Viele Künstler aus Risikogebieten konnten nicht reisen. Aber ihre Kunst ist in großen Teilen doch nach Berlin gelangt. In den vier Ausstellungsorten, denen jeweils ein Themenkomplex zugeordnet ist, kann man sie nun seit Samstag für zwei Monate in festgelegten Zeitfenstern besichtigen und sich ein Bild über die durch Corona sicher noch tiefer gewordenen politischen und kulturellen Risse in der Welt machen. Man denke nur an die permanent prekäre Situation vieler KünstlerInnen.
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Die Hauptschau der Biennale befindet sich wie immer im KW Institute for Contemporary Art in der Auguststraße in Berlin-Mitte. Dort ist im großen Saal ein gewaltiger Kunstaltar für eine sogenannte Antikirche aufgebaut. Er vereint die großformatigen surrealen Zeichnungen weiblicher Heldenfiguren der argentinischen Künstlerin Florencia Rodriguez Giles und die Werkgruppe Bauen Sie Ihre eigene Sixtinische Kapelle des 1999 mit nur 22 Jahren durch Suizid aus dem Leben geschiedenen brasilianischen Malers Pedro Moraleido Bernardes, die sich mit sexueller Gewalt beschäftigt. Davor gelegt ist ein Kreis gekreuzigter Jesusfiguren, die der südkoreanische Künstler Young-jun Tak mit LGBTQI-feindlichen Propagandaflyern eingewickelt hat. Das ist im Gesamteindruck schon recht martialisch. Nicht gerade eben subtil sind auch die Videoarbeiten Libera me (Erlöse mich) und Inverted World des in den USA lebenden kolumbianischen Künstlers Carlos Motto. Er verarbeitet darin christliche Ikonografie mit queeren Mitteln, Bondage- und Sadomasopraktiken.
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Pedro Moraleida Bernardes, Young-jun Tak, Florencia Rodriguez Giles, Installationsansicht, KW Institute for Contemporary Art, Foto (c) Silke Briel
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Auch in den oberen Geschossen der KunstWerke beschäftigen sich die KünstlerInnen mit Kirche als Institution, der Gewalt gegen Frauen oder indigene Bevölkerungsgruppen oder dem Kampf gegen Korruption. Auffallend sind die eindrucksvollen, versteckte Zeichnungen genannte Cartoonserie der kurdischen Künstlerin Zehra Doğan oder die spirituellen Papierarbeiten der kanadischen Künstlerin Shuvinai Ashoona aus dem Volk der Inuit. Auch der chilenische Künstler Óscar Fernando Morales Martínez, ein ausgebildeter Mechaniker und Elektriker, zeichnete während eines Aufenthalts in der Psychiatrie wegen paranoider Schizophrenie einen ganzen Kosmos von ikonografischen Bildfolgen.
Womit wir schon beim nächsten Biennale-Kapitel Das umgekehrte Museum im Kreuzberger Gropius Bau sind. Hier werden in mehreren Räumen die Bilder psychisch Erkrankter gezeigt. Gleich zwei brasilianische Museen in Franco da Rocha und Rio de Janeiro haben sich dem Sammeln der künstlerischen Werke von PatientInnen aus psychiatrischen Kliniken verschrieben. Die hier ausgestellten Papierarbeiten können in ihrer Vielfalt durchaus künstlerisch überzeugen.
Aber nicht nur das Unbekannte und Randständige der Kunst ist im Gropius Bau versammelt, auch die Positionen indigener und anderer unterdrückter Bevölkerungsgruppen ziehen sich hier weiter durch die Ausstellungsräume. Der chilenische Mapuche-Filmemacher Francisco Huichaqueo zeigt in seinem mit traditionellen Hornklängen unterlegtem Video Kuifi ül (Alterümlicher Klang) spirituelle Klartraumsequenzen. Huichaqueo will damit die in deutschen Museen befindlichen indigenen Artefakte zum Leben erwecken. Ein Beitrag zur aktuellen Debatte um die Rückführung von Kulturgütern, die in Kolonialzeiten aus ihren Ursprungsländern in europäische Museen gelangten. Die peruanische Künstlerin Sandra Gamarra Heshiki stellt in ihrer Installation The Museum of Ostracism peruanische Artefakte als zweidimensionale Trompe-l’œil-Malerei in Vitrinen. Auf der Rückseite hat sie abwertende Kunstbegriffe wie „nativo“ geschrieben.
Noch viele weitere Videoarbeiten, Installationen, Malereien und Zeichnungen im Gropius Bau setzten sich mit den Folgen von Unterdrückung und Marginalisierung auseinander. Ein wenig Venceremos-Feeling kommt im Beitrag des Museo de la Solidaridad Salvador Allende (MSSA) [s. Foto unten] auf. Von 1971-73 spendeten KünstlerInnen aus aller Welt ihre Werke als Zeichen der Solidarität mit der Allende-Regierung gegen die von der CIA unterstützen Verleumdungskampagnen. Das Museum musste nach dem Putsch ins Exil und ist nun seit 1992 neu aufgebaut worden. Raumgreifend hier vor allem der aus zusammengenähten Stoffstücken bestehende Wandteppich Multitud II (Menschenmenge II) von Gracia Barrios aus dem Jahr 1972. Als Zeichen gegen die Diktatur von Ferdinand Marcos auf den Philippinen ist auch der großformatige Wandteppich Marcos and his Cronies (1985-95) von Pacita Abad zu verstehen. Eine früher Vertreterin der Dokumentation proletarischer Kämpfe ist zweifellos die Graphikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz, die hier als künstlerisches Vorbild moderner feministischer Künstlerinnen mit einigen Bildern aus ihren bekannten Graphikfolgen ausgestellt ist.
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Museo de la Solidaridad Salvador Allende (MSSA), Installationsansicht, 11. Berlin Biennale, Gropius Bau, Foto (c) Mathias Völzke
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Wer nach diesem reichhaltigen Kunstprogramm noch Zeit findet, kann und sollte natürlich auch die beiden kleineren Ausstellungsorte besuchen. Hier schließt sich der Kreis der globalen Kunstschau mit einem lokalen Blick auf die traditionelle Berliner Kunst-Institution Daadgalerie in der Kreuzberger Oranienstraße mit ihrem internationalen Stipendiatenprogramm und dem ExRotaprint-Gelände in der Bornemannstraße, einem gemeinnützigen Kunst- und Wohnprojekt im Weddinger Kiez. Ein Versuch die internationale Schau mit der Stadt Berlin zu verlinken. Die Daadgalerie wird dabei zum Schaufenster für dissidente Körper. Das meint vor allem eine rebellische, queere Prêt-à-porter-Schau, wie es im Kurzführer zur Biennale heißt. Die Projekträume die die Biennale im ExRotaprint angemietet hat, dienen als sogenanntes Lebendes Archiv der Dokumentation und als Diskursraum der KünstlerInnen mit den BesucherInnen der Biennale in Form von Workshops. Was durch die momentanen Einschränkungen zur Pandemieeindämmung natürlich erschwert wird.
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Stefan Bock - 7. September 2020 ID 12445
Weitere Infos siehe auch: https://11.berlinbiennale.de/de/
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