"Überlebenskunst"
aus spätgotischer
Zeit
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Bewertung:
Es war eine einfache Quittung, die vor rund 60 Jahren das Rätsel um einen bis dato unbenannten Großmeister der spätgotischen Bildhauerkunst löste: Aus ihr ging hervor, dass es sich um Arnt den Bilderschneider handelte, dessen Kunstwerke ab 1460 in Kalkar nachzuweisen sind und der bis 1491 später auch im niederländischen Zwolle wirkte. Arnt schuf neben Statuen aus Bibel- und Heiligengeschichten u.a. beeindruckende Panoramawerke, deren geschnitzte Figuren wie 3D-Bilder anmuten und so detailreich sind, dass sie wie Wimmelbilder aussehen. Der "Bilderschneider", wie er sich selbst nannte, stammte aus den Niederlanden, arbeitete hauptsächlich am Niederrhein, wo er die Bildhauerschule prägte. Im 16. Jahrhundert wurden im Laufe des reformatorischen Bildersturms vermutlich auch viele seiner Werke vernichtet; nun hat das Museum Schnütgen in Köln eine Ausstellung mit 60 Exponaten auf die Beine gestellt. Sie war bereits für April 2020 geplant, konnte aber erst am 25. Juni 2020 eröffnet werden.
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St. Georg greift den Drachen an. Detail vom Georgsaltar der Nicolai-Kirche in Kalkar, Werkstatt des Meisters Arnt von Kalkar und Zwolle. | Foto: Helga Fitzner
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Das Prunkstück ist der fünf Meter breite Georgsaltar aus der St. Nicolai-Kirche in Kalkar [s. Foto oben], wo die meisten der Stücke her stammen. Der Altar illustriert verschiedene Stationen des Heiligen Georg, der als Drachentöter berühmt wurde. Als späterer Heiliger hatte er einige Martyrien zu erdulden, und die Angebotspalette der professionellen Folterer und Henker im Spätmittelalter würde Horrorfans zum Staunen bringen: Wir sehen Georg bei der Folterung mit Reißhaken, Feuer, dem Eintreiben von Holzpflöcken in den Leib, beim „Bad“ im heißen Bleikessel und bei der Enthauptung. Das Rädern hatte wohl aufgrund göttlicher Intervention nicht geklappt, und über den Giftbecher hat er das Zeichen des Kreuzes gemacht, sodass ihm nichts geschah. Es gibt noch Nebenmotive, aber das Hauptmotiv ist die Tötung des Drachens, dem die vor ihm kniende und betende Königstochter geopfert werden soll, damit der Drache die Stadt verschont. Auf dem Plakat [s.o.re.] ist Georgs Gesichtsausdruck gut zu erkennen. Darin ist keine Mordlust, Triumph oder Stolz zu bemerken, eher Entschlossenheit und möglicherweise ein wenig Trauer.
Für die Bemalung und Verzierung waren Fassmaler zuständig, denen man durchaus künstlerische Freiheit zugestand. Sie erweckten das geschnitzte Holz zu zusätzlichem Leben, und dass der Orient, der Schauplatz des Drachenkampfes, ein wenig wie Kalkar aussieht, tut der Faszination der Bilder und der erzählten Geschichten keinen Abbruch. - Auf die Altartafel Anbetung der Heiligen Drei Könige ist Museumsdirektor Moritz Woelk besonders stolz. Das Museum Schnütgen konnte drei bislang verschollene Fragmente erwerben und das Werk vervollständigen und restaurieren, sodass es nun im wahrsten Sinne des Wortes glänzen kann.
Es gibt mehrere internationale Leihgaben z.B. aus dem Rijksmuseum in Amsterdam, und ein Altarretabel aus dem Musée de Cluny in Paris [s. Foto unten]. Es ist ein geschnitzter Hausaltar mit bemalten Flügeln, der geschlossen und geöffnet werden kann und der privaten Andacht diente. Im Innenteil wird die Beweinung Christi nach seinem Tod gezeigt, bei der die Trauernden leichte gerötete Gesichter und plastisch gestaltete Tränen aufweisen. Eine versteinert wirkende Maria hält ihren toten Sohn über dem rechten Knie, ihre linke Hand hält zärtlich seinen linken Arm, der ganz steif ist. Auch Maria Magdalena ist zugegen und hält ein Salbölgefäß bereit. Jeder und jede der Anwesenden trauert anders. Am oberen mittleren Reliefteil ist das leere Kreuz auf dem Hügel Golgatha erkennbar, rechts und links davon noch zwei weitere Kreuze mit Gekreuzigten. Der obere Teil des Reliefs ist wie ein Baldachin gestaltet, im Hintergrund ist ein vergittertes Tor angebracht, hinter dem sich dann noch eine blaugraue Rückwand befindet, die dem Altar eine eindrückliche Tiefe verleiht.
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Der Hausaltar aus der Werkstatt von Arnt von Kalkar und Zwolle ist eine Leihgabe aus dem Musée de Cluny in Paris und stellt die Beweinung Christi nach der Kreuzigung dar. | Foto: Helga Fitzner
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Arnt war ein gottbegnadeter Künstler und setzte wie viele Kunstschaffende seiner Zeit diese Begabung dafür ein, Gott zu verherrlichen, indem er Geschichten aus der Bibel und von Heiligen darstellte. Dies gelang ihm in einer ungeheuren Differenziertheit, so konnte er Trauer, Angst, Entsetzen, Verzweiflung, Andacht und vieles mehr in die Gesichter der Personen zaubern. Deswegen heißt es im Untertitel der Ausstellung auch „Meister der beseelten Skulpturen“. Mit ein bisschen Glück bringt er uns durch diese Inszenierung unseres Menschseins mit dem Spektrum allgemein menschlicher Gefühlszustände auch Gott näher oder jenem Ungreifbaren, das größer ist als wir selbst, und dessen Funken wir laut Christentum in uns tragen und an dem jeder Mensch Anteil hat.
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Helga Fitzner - 26. Juni 2020 ID 12321
Das MUSEUM SCHNÜTGEN ist nach dem Theologen und Priester Alexander Schnütgen (1843-1918) benannt, der in vielen Sakristeien und Kirchenspeichern vernachlässigte Kunstwerke fand, die er zu bewahren versuchte. Heute sind die Exponate in einer der 12 romanischen Kirchen Kölns, St. Cäcilien, untergebracht. Die entwidmete Kirche bietet einen wunderbaren Rahmen dafür, und auch die Dauerausstellung ist auf jeden Fall einen Besuch wert. Die Sammlung kann mit anderen internationalen Museen für mittelalterliche Kunst durchaus mithalten, wie das Musée national du Moyen Âge in Paris und das New Yorker Cloisters. Derzeit ist es aber Arnt, der mit dieser ersten monografischen Ausstellung seiner Werke eine verdiente Hommage erhält. Diese Exponate haben über die Jahrhunderte den Bildersturm, zahllose Kriege, Geldmangel, Gleichgültigkeit und viele weitere Ereignisse überstanden und künden durch ihre reine Existenz schon vom Überleben.
Weitere Infos siehe auch: https://museum-schnuetgen.de
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