Die jungen
Alten
30 Jahre Deichtorhallen Hamburg
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Bewertung:
Scheinbar simple Familienbilder zeigen die Lage der Nation. Sind sie zudem noch verwischt, gibt einem das aber zu denken. Neben dem Denken macht sich dann noch eine bleierne Stimmung breit. Wie war es 20 Jahre nach dem Krieg?
Neben dem ironischen Würstchenbild von Polke, quasi mit dem Motto sich endlich mal was Gutes gönnen, sind auch immer noch die Bomberbilder von Richter im Kopf.
Kiefer, der Jüngere, kritisiert dann eher die bürgerliche Spießigkeit, wie ich sie auch kenne, Mustertapete mit exotisch anmutender „Negerskulptur“.
Die Bedrohung hängt noch im Nacken, und die Lehrer sind oft übrig gebliebene Nazis. Deutschland ausgebombt, und die Deutschen fühlen sich mehr als Opfer denn als Täter. Die meist großformatigen Bilder machen beklommen, zeigen auf, was damals in den 1960ern los war. Baselitz, Richter und Polke nennen ihre Malerei Kapitalistischen Realismus - als ironische Antwort auf den Sozialistischen Realismus. Die damalige ästhetische Vorherrschaft der Abstraktion war überwunden.
Wird die Jugend es ohne Hintergrundwissen verstehen, dass damals schon eine Hornbrille der Inbegriff des Spießbürgertums war?
Deichtorhallen: „Ein Finger in der Wunde der Nachkriegsgesellschaft.“
Es war eine gute Pressekonferenz mit dem Intendanten Dirk Luckow und dem Kunsthistoriker, Insider (Jahrgang '44) und Kurator der Ausstellung Götz Adriani. [Anm.d.Red.: Die Ausstellung ist eine Kooperation der Deichtorhallen Hamburg mit der Staatsgalerie Stuttgart.]
Viel erfährt man über die Zeit, die Unterschiede der vier bedeutendsten Künstler der Nachkriegszeit und dann, was sie hier in der großen wunderbaren Halle zusammenbringt, wo sie sich doch eigentlich oft streiten. Doch gehört das, wie ich finde, dazu, um eine wirklich stringente Position als Künstler zu entwickeln.
Fangen wir an mit Georg Baselitz (*1938), der wegen sogenannter „gesellschaftspolitischer Unreife“ in Ostberlin der Kunstschule verwiesen wird. Doch auch im Westen gibt’s Probleme, und er malt gegen Ordnung und jeden Trend, weder abstrakt noch realistisch, Körperformen sind ohne Proportion und Perspektive, es wird hässlich und obszön. Gegen Prüderie und alles Dekorative löst er Skandale aus, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Phallus versus Nazidiktatur.
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Georg Baselitz, Fixe Idee, 1964; Öl auf Leinwand, 162 x 130 cm; Staatliche Kunsthalle Karlsruhe | © Georg Baselitz 2019
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Und dann sagen die Leute, ach, was für schöne Farben!
So malt er blasphemische Motive im freundlichen Mattrosa. 1965 kommt dann mit den Heldenbildern der künstlerische Durchbruch, die zarte Farbigkeit steht jetzt in Kontrast zur Schwere und Dunkelheit, einer Spannung, die er auch hier im westdeutschen Berlin verspürt.
1969 passiert der radikale Schritt der Verunsicherung; er stellt seine Bilder auf den Kopf, kehrt die Motive um, verweigert gängige Kompositionsmuster von Farbe und Form, ja hebt die Schwerkraft auf, macht sie sinnlos.
So soll er schon mal symptomatisch dafür stehen, was einem da in den Deichtorhallen erwartet - keine leichte Kost und doch beeindruckend.
Die Künstler sind getrennt gehängt, zu unterschiedlich ihre Art zu malen.
Filme geben weiteren Einblick in ihr Schaffen.
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Gerhard Richter, geboren 1932 in Dresden; seine Kunst bewegt sich zwischen Malerei und Fotografie. Er wählt Motive aus Illustrierten oder dem privaten Fotoalbum und bringt die bekannte Unschärfe, das Verwischen der feuchten Ölfarbe ins Bild. Er erzählt Geschichten aus dem Krieg, macht beklommen, hinterfragt den Geltungsanspruch von Bildern und Sensationsgeschichten. So zeigt er auch heute noch auf, wie wir täglich verdrängen: diese Art der Scheinhaftigkeit, der Lügen und Verklärung. Er will keine Idealisierung mehr, die ursprüngliche Aussage von Fotos führt er ad absurdum.
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Gerhard Richter, Phantom Abfangjäger, 1964; Öl auf Leinwand, 140 x 190 cm; Sammlung Froehlich, Stuttgart | © Gerhard Richter 2019 (06082019)
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Es brennt in ihm, und seine Kunst lässt auf eindringliche Art und Weise die Vergangenheit auf die Gegenwart treffen. Was ist Wahrheit - gestellte, gestochen scharfe Bilder, die professionell inszenierte Lebensfreude? Klar, die Sehnsucht der westdeutschen Gesellschaft war nach Konsum und Luxus. Doch wohin hat uns das geführt?
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Sigmar Polke (1941-2010).
Wie sagte mein Vater noch: „BILD bildet!“; und so wurden wir Kinder gezwungen, jeden Tag diese Zeitung zu lesen. Die wirkte auf mich irgendwie verlogen, so wie auch Polke die aufstrebende Wirtschaftswundergesellschaft empfand. Mit anarchischem Humor pflegte er den Nonkonformismus in einer konformistischen Zeit. Und jedes abgedruckte Foto bestand ja eigentlich nur aus Rasterpunkten. Polkes Rasterbilder decken auf, zeigen sozusagen das Kleingepunktete.
Er greift Klischees auf; die Palmen am Strand als ultimativer Wunschgedanke. Auch die neue Fresslust umgesetzt im Würstchen- Bild ist Ironie der Bürgerlichkeit. Die Deutschen umgeben sich mit scheußlichem Dekor als harmlose Kunst, das Entartete der Nazizeit steckt noch in den Knochen. Polke stellt all das überzogen zur Schau, er persifliert, banalisiert, verkitscht und missversteht auf lustvolle Weise den unverfänglichen Massengeschmack.
Der Bildtitel Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen! führt dann auch die quasi-religiöse Überhöhung gegenstandsloser Kunst ad absurdum und zeigt zugleich die stilisierte Form von Hitlers Haartolle.
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Auch Anselm Kiefer manipuliert die Fotografie, collagiert, ergänzt und lebt in seinem ganz eigenen Kosmos, nach dem Motto: Erkenne dich selbst!
Durch sein gesamtes Schaffen ziehen sich Künstlerbücher, die ihm wohl ein geborgenes Experimentieren ermöglichen. Geboren 1945, ist er der Jüngste dieser vier Künstler, der sich dann 1969 an das Tabu wagt, an historischen Kriegsorten in Frankreich und Italien die provokante Pose des Hitlergrußes zu vollziehen. Er nennt es Besetzungen und sieht es als eine weitere Selbsterfahrung. Ein Sturm der Entrüstung bricht los. Doch er schafft weitere heroische Bilder, lässt auch christliche Sinnbilder nicht aus, fragt sich aber, ob es statthaft ist das Göttliche visuell darzustellen. Für ihn hält Kunst dennoch ein Erlösungsversprechen bereit. Sein Atelier wird zur Kultstätte des Allerheiligsten.
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Anselm Kiefer, Heroisches Sinnbild VII, 1970Öl auf Baumwolle (in der Mitte quer zusammengenäht), 119 X 158,5 x 3,5 cm; Sammlung Würth | © Atelier Anselm Kiefer
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Fazit: Eine gelungene Jubiläums Ausstellung mit ergreifenden Schlüsselwerken der 1960er Jahre, einer Zeit, wo die Eltern noch geschwiegen und verdrängt haben.
Ein Hoch auf die Buttercremetorte!
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Liane Kampeter - 15. September 2019 ID 11680
Weitere Infos siehe auch: https://www.deichtorhallen.de
Post an Liane Kampeter
https://www.liane-kampeter.de
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