Raum,
Zeit,
Licht
DE CHIRICO. Magische Wirklichkeit
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Cover: Ausstellungskatalog des Hirmer Verlages
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Bewertung:
Die Zeit steht still. Melancholie leerer Plätze. Dunkel und doch von Sonne beschienen, stehen diese konstruierten Bilder für sich. Langziehende rätselhafte Schatten deuten an, verweisen auf unsichtbare Ebenen. Diese metaphysische Malerei arbeitet mit Raum, Zeit und Licht, einer überzogenen Zentralperspektive und sich scheinbar unendlich wiederholenden Arkaden.
Jetzt sind viele Werke dieser kurzen zehnjährigen Phase (1909-1919) in der Hamburger Kunsthalle vereint, aber wegen des Lockdowns nicht zu sehen, nicht zu erspüren und nicht wirklich zu ergründen.
So bleibt zunächst all das Geschriebene hier Theorie, jedoch mit einem besonderen Enthusiasmus und einer Neugier dieser Persönlichkeit gegenüber und seiner sehr eigenen Weltauffassung.
Der italienische Begriff für diese Malerei ist "Pittura Metafisica", spricht von dem Seienden, das welches unsichtbar und doch wirksam ist. Auf den ersten Blick geben einem die Bilder von Giorgio De Chirico (1888-1978) Rätsel auf, scheinen nicht von dieser Welt. Seine inneren Einsichten und seine prophetische Sicht sind es wohl dann, weshalb er so berühmt wurde. Eine Neigung zur Legendenbildung führte zu weiterer Mystifikation, war er nun Grieche oder Italiener, dann noch München und Paris. Seine Selbststilisierung erschuf Rätsel und orakelhafte Wahrheiten.
Äußerst bedauerlich, dass wir im Lockdown nicht vor diesen ikonischen Bildern stehen können. Denn geht es nicht gerade hier um das Empfinden, welches die Bilder beim Betrachten auslösen? Ein Eintauchen und Verschwinden.
André Breton, der Kopf der französischen Surrealisten, soll ja aus dem Bus gesprungen sein, als er im Fenster der Galerie Paul Guillaume Chiricos Bild Das Gehirn des Kindes [s. unten] sah. Es ist von 1914 und war für ihn eine Offenbarung; er kaufte es. Dieses besondere Bild impliziert Unschuld, das Kind, welches noch nicht von der Gesellschaft geprägt wurde. Als erwachsener Mann, dazu nackt, blickt er auf ein gelbes Buch, Anspielung auf Nietzsches französische Ausgabe von Also sprach Zarathustra. Die zentrale Gestalt ist auf der Suche nach sich selbst und schließt ab mit der Vergangenheit, ist dabei (nach Nietzsche) die Umwertung aller Werte zu vollziehen. Und das in aller Abgeschlossenenheit und Klarheit. Wir können daraus schließen, nur mittels subjektiver Empfindungen ist der Nicht-Sinn der Wirklichkeit zu erkennen. Es sind also tiefe Bedeutungen, die sich hier offenbaren, schicksalshafte Fingerzeige, mögliche Schlüsselerlebnisse.
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Giorgio De Chirico: Das Gehirn des Kindes (Le Cerveau de l'enfant), 1914; Öl auf Leinwand, 80 x 65 cm | Moderna Museet, Stockholm; © VG Bild-Kunst, Bonn 2019; Foto: © Moderna Museet / Stockholm
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De Chirico fühlte sich seelenverwandt mit dem Philosophen Friedrich Nietzsche. Auch Arthur Schopenhauer war ein wichtiger Einfluss und brachte ihn auf den Nicht-Sinn des Lebens. Zu nennen ist ebenfalls sein hochbegabter Bruder Andrea De Chirico (Alberto Savinio). Er war Musiker und Komponist von Opern und Kammermusik, Schriftsteller und Bühnenbildner (1891-1952).
Die metaphysische Phase dauerte also nur 10 Jahre. Ein Jahr darauf wechselte er radikal seinen Stil zum Klassizismus. Daraufhin wurde er aus dem Kreis der Surrealisten ausgeschlossen, in vielfältiger Weise gefälscht, und Variationen seiner Bildelemente wurden mit Erfolg kopiert. Vielleicht hatte er die Einsicht, dass alles gesagt ist und es einer Offenheit bedarf, um Zugang zu diesen anderen Ebenen zu bekommen. Die Bilder lassen sich fälschen, aber vielleicht nicht der spirituelle Zugang. Meist wurde er selbst nicht verstanden und als passiver Mensch dargestellt. Für ihn aber könnte es ein demütiges Zulassen von Realität gewesen sein, ein Wunsch nach Freiheit und Offenheit den Visionen gegenüber. Vielleicht ging es ihm auch nicht um den Markt, um Verkäuflichkeit und um materielle Werte, sondern um Anerkennung, darum verstanden zu werden. Was allerdings im Alter am Schwinden war. Er liebte es mehr und mehr, seine Spuren zu verwischen.
Auch dass die Metaphysik zu jener Zeit höchst romantische Wurzeln hatte, schreibt sie einer Esoterik zu, die vielleicht für De Chirico nicht mehr relevant war. Sowieso lassen sich Bilder nicht besitzen, nur ergründen. Er war ein Beobachter seiner Zeit. So gab es auch Begegnungen mit anderen Künstlern wie Ives Tanguy oder Max Ernst. Auch war er von Max Klinger und Böcklin inspiriert, die nach seiner Sicht Empfindungen und Stimmungen hervorriefen und den tieferen Sinn erkannten. Jenseits von Zeit und Raum, jenseits unserer Gedanken, verstanden sie es, unterschiedliche Realitätsebenen miteinander zu verbinden.
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Diese einmalige Ausstellung mit den hochkarätigen Leihgaben trifft auf ausgewählte Sammlungsbestände des Hauses, wie die traumhaften Graphikzyklen Klingers, und das passend zu dessen 100. Todesjahr.
Mythen, eigene Erzählweisen und die Einflüsse der französischen Avantgarde offenbaren sich, eine Vielzahl kultureller Einflüsse zeigt sich in den Bildern. Es ist das eigentlich Unsichtbare, das Unvereinbare, welches Stille hinterlässt.
Wie das Schicksal es so will, ist die Melancholie leerer Plätze wie ein heutiger Blick in die Wirklichkeit. Eine Realität jenseits allen Scheins und damit eine Offenbarung auch für den heutigen Betrachter. Wenn wir doch nur diese Bilder sehen und empfinden könnten! Wir würden staunen über einfache Dinge, auch kitschige, die wahrlich tiefe Gefühle auszulösen vermögen.
Die Schatten werden also länger, die Sonne steht nicht mehr so hoch, es ist ein In-Sich-Kehren, ein Abtauchen ins eigene Unterbewusstsein. Träume offenbaren Bedeutung, wenn wir offen sind, sie zu verstehen. Es ist die Suche nach dem Übersinnlichen jenseits des Todes. Das Neuartige verlangt, dass wir Vergangenheit in Klarheit gehen lassen.
Und eine Frage bleibt:
Sind wir nur Spielball des Schicksals? Wer sensibel und empfänglich ist, wird in diesem kompliziert erscheinenden Spiel vielleicht seine Antwort finden.
Es bleibt also noch Zeit und die Hoffnung auf eine Wiedereröffnung der Kunsthalle, damit wir uns selbst von der Wirksamkeit dieser Bilder überzeugen können.
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Giorgio De Chirico: Der Lohn des Wahrsagers (La Récompense du dévin), 1913; Öl auf Leinwand, 135,6 x 180 cm | Philadelphia Museum of Art, Louise and Walter Arensberg Collection, 1950; © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 /Artists Rights Society (ARS), New York / SIAE, Rome Foto: © Philadelphia Museum of Art, Louise and Walter Arensberg Collection, 1950, 1950-134-38
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Liane Kampeter - 23. Januar 2021 ID 12707
Die Hamburger Kunsthalle präsentiert eine bislang ungesehene Qualität und Dichte dieser teils zuvor kaum gereisten Meisterwerke aus über 50 Sammlungen weltweit: Darunter sind namhafte amerikanische und europäische Institutionen wie das Museum of Modern Art und die Pierre and Tana Matisse Foundation in New York, das Art Institute of Chicago, das Chrysler Museum of Art in Norfolk, Virginia, die Menil Collection Houston oder das Philadelphia Museum of Art, die Peggy Guggenheim Collection in Venedig, die Tate London und das Moderna Museet in Stockholm sowie verborgene Privatsammlungen unter anderem aus Italien und der Schweiz. Insgesamt sind über 80 Meisterwerke von de Chirico, Carlo Carrà, Giorgio Morandi, Alberto Magnelli, Alexander Archipenko, Pablo Picasso sowie von Arnold Böcklin und Max Klinger zu entdecken.
Ausstellungskuratorin in Hamburg: Dr. Annabelle Görgen-lammers
Externer Kurator: Paolo Baldacci
Kuratorin in Paris: Cécile Girardeau
Wissenschaftliche Assistenz in Hamburg: Sjusanna Eremjan
Die Eröffnung erfolgte per Livestream - s. unter https://youtu.be/hQVWAL1DMss.
Weitere Infos siehe auch: https://www.hamburger-kunsthalle.de/ausstellungen/de-chirico
Post an Liane Kampeter
https://www.liane-kampeter.de
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