Gebrauchsprosa
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Bewertung:
In seinem Vorlass analysiert A.J. Weigoni, wie sich Zeit und Identität im Lesen und Wiederlesen spiegeln, Fakten die Fiktion beeinflussen, wie das Gelesene und Gesehene von den Umständen abhängt, unter denen es geschrieben wurde. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird. In seinen erzählerischen Werken geht Weigoni von der Grundannahme aus, dass man mit Fakten lügen kann und mitunter Fiktionen bemühen muss, um zur Wahrheit vorzustoßen. Spannend wird es vor allem dann, wenn die Texte über Literatur sprechen, dabei sind es eher intertextuelle Bezüge als metatextuelle Verweise, die diese Gebrauchsprosa als Texte ausweisen und somit gleichsam aus der Diegese hinaus auf den Akt des Lesens deuten. Die Verflechtungen von Poesie, Kunsttheorie, persönlicher Biographie und politischen Ereignissen, von den Querverweisen zwischen Literatur und Kunst, Hörspiel und Medienpädagogik, Musik und Fußball und von den Bezugslinien zwischen Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft machen dieses Buch zu einer komplexen Lektüre.
Jeder einzelne Leser, den die Poesie gewinnt, ist ein Gewinn für eine mögliche Erkenntnisfähigkeit von Literatur. Es gibt viele Fährten in diesem Ergänzungsband, nicht wenige verweisen auf das Schreiben und den spielerischen Umgang mit der Sprache. In diesem Vorlass geht es um die unerträgliche Leichtigkeit des freien Falls. Weigoni lässt die Literatur gegen ihre eigenen Verfahren antreten, den ästhetischen Prozess mit seinen Fallen und Untiefen, und macht sie in all seiner Virulenz und kämpferischen Anstrengung anschaulich. Das Werk dieses Romanciers ist zweifelsohne ein eminent konsequentes und unkorrumpierbares Beispiel für den Versuch, durch Erzählen, Sammeln, Wiederholen, Variieren und Ergänzen eines Reservoirs von Geschichten zum Unverbrüchlichen vorzudringen. Dabei verliert sich Weigoni nie in bloßer autobiografischer Selbstvergegenständlichung. Er hat sich die Einsicht zu eigen gemacht, dass objektive Wahrheiten nicht mehr zu erreichen sind und diese Einsicht nun sprachliche Form werden lässt. Der Antrieb für das Schreiben ist für diesen Romancier die Schaffung eines festen Fundaments seiner Existenz zu sein, die Konstruktion eines transzendentalen Obdachs.
Dieses "Beiwerkchen" verweigert sich der umstandslosen Zuordnung, es ist eine Gebrauchsprosa, die sowohl biographische, werkgenetische als auch poetologische Fragen beantwortet. Im Vorlass bündelt Weigoni die Motive seines Schreibens in einem vielstimmigen Buch. Dieser Zusatzband des Prosa-Schubers ist ein Dokument des poetischen Realismus. Was den Essays von Weigoni die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er sein Material unterwirft. In diesem Band findet sich die dekonstruktive Auflösung der mehr oder weniger strikt gezogenen Grenzen zwischen Elite- und Massenkultur, zwischen Literatur und Wissenschaft, Kunst und Publizistik. Simultanität ist ein gefährlicher Reichtum, die Überfülle von Gelerntem und flüchtig Aneigbarem, führt zur Abstraktionen. Weigoni wirft Schlaglichter auf die zwischen Medium und Textur changierende Beschaffenheit des Lesens. Die Mischung von essayistisch-literarischen und glossierenden Beiträgen lädt ein, die einzelnen hochkarätigen Bestandteile zu kosten, dabei sollte die entdeckerische Freude an den mal spannenden und emotionalen, mal literarisch verschlungenen, metaphorischen, kognitiven, materialen und medialen Ausflügen ins Reich des Lesens überwiegen. Der Sammelband fordert durch seine Vielseitigkeit eher dazu auf, sich einen eigenen Weg durch sein Werk zu bahnen. Was gern Intertextualität genannt wird, bei Weigoni wird es unaufdringlich und ohne Überheblichkeit Gestalt, das ist eine Kunst zu nennen. Diese Gebrauchsprosa zeigt, was der Fokus auf eine Fragestellung sichtbar macht, wie diese Konzentration aufdeckt, was dem Schreibenden selbst verborgen blieb, wohl wissend, dass die Fülle der Literatur, der Kunst und des Lebens darin liegen, nie alles wissen zu können.
Matthias Hagedorn - 7. Januar 2019 ID 11136
A.J. Weigoni | Vorlass
Gebrauchsprosa
Edition Das Labor, 2019
Link zum Verlag:
http://www.editiondaslabor.de
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editiondaslabor.de
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